Die Querschüsse der Theresa May
Großbritannien. Die Ex-Premierministerin lässt ihrer Missbilligung ihres Nachfolgers Boris Johnson freien Lauf. Für ihn könnte das gefährlich werden.
London. Dass zwischen dem britischen Premierminister Boris Johnson und seiner Vorgängerin Theresa May nicht gerade trautes Einvernehmen herrscht, war nie ein Geheimnis. Aber mit ihrer offenen Kritik an Johnson, dem sie in einem Zeitungsartikel „moralisches Versagen“und das Verspielen der „globalen Führungsrolle“des Landes vorwarf, zündete May nun eine politische Bombe. Die umgehende Reaktion des JohnsonLagers zeigte, wie ernst man dort die Herausforderung nimmt.
Es war nicht das erste Mal, dass der Konflikt zwischen den beiden konservativen Spitzenpolitikern in der Öffentlichkeit ausgetragen wurde. Unmittelbar nach seiner Amtsübernahme im Juli 2019 nahm Johnson eine wahre Säuberung der Partei vor und entfernte Mays Team nicht nur aus der Regierung, sondern schloss widerspenstige Abgeordnete sogar aus der Partei aus. May quittierte dies zunächst ebenso mit Schweigen wie seine Kritik an ihrem Brexit-Deal als einem „Sprengstoffgürtel“.
„Beispielloser Schaden“
Wer das als würdevollen Rückzug auf die Hinterbänke des Unterhauses interpretierte, wurde in der Folgezeit eines Besseren belehrt. „The Right Honourable Member“für den Wahlkreis Maidenhead macht mehr und mehr ihr Missfallen mit der Politik ihres Nachfolgers deutlich. In der Brexit-Debatte warnte sie vor einem Ausscheiden Großbritanniens aus der europäischen Sicherheitszusammenarbeit. Johnsons Spiel mit dem Völkerrecht habe „beispiellosen Schaden“angerichtet, urteilte sie. In die Jubelstimmung nach der Einigung über den Deal mit der EU mischte sie die Warnung vor „Isolationismus“aus einem „fehlgeleiteten Glauben an britische Einzigartigkeit“.
Johnson ließ all dies bisher an sich abprallen. Ausgestattet mit einer Mehrheit von 80 Sitzen kann er es sich leisten, Zurufe aus der hinteren Reihe zu ignorieren. Zudem hat May weder Chancen noch Absichten für ein Comeback an der Front: Sie scheiterte kläglich, den Brexit-Prozess zu Ende zu führen. In Wahlkämpfen war sie eine Belastung für die eigene Partei. Bei ihrem Rückzug waren die Konservativen tief gespalten.
Die Tatsache, dass ihr niemand vorwerfen kann, ihr eigenes Süppchen zu kochen, macht Mays jüngste Intervention für Johnson aber brisant. Während der Premier aufgrund zahlloser Affären immer einen etwas zweifelhaften Ruf hatte, ist sie eine aufrechte Kirchgängerin, die als frivolste Tat ihrer Jugend zu Protokoll gab, „in einem Getreidefeld im Kreis gelaufen“zu sein. Mit der ihr zugebilligten moralischen Autorität erlaubt sich May nun zu sagen, was viele andere nicht einmal hinter vorgehaltener Hand auszudrücken wagen. So mancher Konservativer munkelt mittlerweile angesichts des Chaoskurses von Johnson, die Partei dulde ihn nur mehr als ihren Führer „aus Angst davor, dass alle Alternativen noch schlechter wären“.
„Eine Witzfigur“
Andere wagen sich im Windschatten Mays freilich bereits aus der Deckung. Der nordirische Abgeordnete Ian Paisley warnt: „Johnson ist in dringender Gefahr, den Leuten zu beweisen, dass er eine Witzfigur ist“, sagte er angesichts der vom Premierminister geleugneten Schwierigkeiten nach Inkrafttreten des Brexit. Paisleys Vater war immerhin der Patriarch der nordirischen Unionisten. Der kaum weniger temperamentvolle Steve Baker, ein konservativer Brexit-Hardliner und Hauptverursacher des Sturzes von May, drohte Johnson indes mit einem Misstrauensantrag, sollte der aktuelle Lockdown nicht schnellstmöglich aufgehoben werden. Wie die Abgeordnete für Maidenhead in diesem Fall abstimmen würde, kann man sich mittlerweile denken.
Der Abschied aus dem Amt ist schon vielen britischen Premierministern schwergefallen: Tony Blair wurde ein dauergebräunter Multimillionär. David Cameron verschwand in Schimpf und Schande. Theresa May ist dabei, Edward Heath nachzueifern: Der Konservative verfolgte seine Nachfolgerin Margaret Thatcher bis zum Ende mit unverhohlener Abneigung.