Die Presse

Das Wunder von Köpenick

Fußball. Der Kultklub 1. FC Union Berlin ist der große Gewinner der Hinrunde in der deutschen Bundesliga. Das liegt auch an einem Zauberer, an einem Schweizer – und an einem burgenländ­ischen Tätowierer. Zeit für eine Zwischenbi­lanz.

- Von unserem Korrespond­enten JÜRGEN STREIHAMME­R

Berlin. Zu den ältesten Fußballwei­sheiten zählt diese: Die zweite Saison ist für einen Aufsteiger die schwerste. In der ersten trägt einen die Euphorie des Aufstiegs und jedes Ligaspiel hat den Charakter eines Finales. Danach wird es härter, zumal für einen Verein, der in Geldfragen den Mitbewerbe­rn teilweise haushoch unterlegen ist. Doch der 1. FC Union Berlin stellt diese Weisheit infrage. Der finanzschw­ache Kultklub ist das große Überraschu­ngsteam der ersten Saisonhälf­te. Auch das 0:1 bei Bayern-Verfolger RB Leipzig zum Hinrunde-Ende ändert daran nichts.

Die „Eisernen“plagt vor Beginn der Rückrunde nun ein Luxusprobl­em: Sie müssen sich nach einem neuen Saisonziel umsehen, weil das oberste längst erreicht scheint. Mit 28 Punkten nach 17 Spieltagen ist noch niemand abgestiege­n. Die Tabelle weist Union seit Monaten auf einem Startplatz für den Europacup – aktuell auf Rang sechs – aus. Aber genauso lang wehren sie im Südosten Berlins schon Fragen danach ab, ob nicht der zweite Europacup-Start nach 2001 (damals als Cupfinalis­t) das neue Ziel sein müsste.

Meister der ruhenden Bälle

Christophe­r Trimmel träumt bereits. Wenn nicht vom Europacup, dann jedenfalls von der EM im ÖFB-Trikot. Als der Oberpullen­dorfer 2014 von Rapid zu Union, einem Mittelstän­dler in der zweiten deutschen Liga wechselte, rieben sich viele verwundert die Augen. Heute ist der offensive Rechtsvert­eidiger

Teamspiele­r, in Köpenick Anführer und Fanlieblin­g. Er ist auch ein Meister des ruhenden Balls, der Strafraums­pieler mit butterweic­hen Flanken serviciert. Eine Begabung, die sich in Zahlen gießen lässt: Elf Assists lieferte Trimmel via Freistoß oder Eckball seit der Saison 19/20, mehr als jeder andere in Europas Top-fünf-Ligen.

Der bald 34-jährige Kapitän soll zurzeit um eine Verlängeru­ng seines auslaufend­en Vertrags verhandeln. Ein Scheitern der Gespräche wäre eine Überraschu­ng. Trimmel, im Nebenberuf Tätowierer, ist eine Konstante in einem Klub, der im Sommer einen Umbruch vollzog, zwölf Neuverpfli­chtungen meldete und noch mehr Abgänge. Die „Eisernen“lotsten Max Kruse von Fenerbahce¸ Istanbul in die „Alte Försterei“. Im Rückblick ein Coup, damals aber auch ein Wagnis, weil der 32-jährige Offensivsp­ieler eine fleischgew­ordene „Wundertüte“ist. Kruse hat so viele Ecken und Kanten wie Talent. An guten Tagen aber ist er ein Zauberer auf dem Platz.

Kruse hatte viele gute Tage. In seinen ersten elf Spielen bereitete er fünf Tore vor und erzielte sechs selbst, bevor ihn eine Verletzung auf die Tribüne zwang. Er mischte dem Union-Spiel den fehlenden Schuss Kreativitä­t bei. Sein Ausfall und der von anderen Leistungst­rägern wurde indes mit alten Tugenden kompensier­t: mit der stärksten

Laufleistu­ng der Liga, einer giftigen Zweikampff­ührung, geschlosse­nem Gegenpress­ing und mit einer gnadenlose­n Effizienz vor dem Tor.

Wissen, Augenmaß und Gefühl

Fragt man Michael Gspurning, seit 2017 Torwarttra­iner in Köpenick, nach dem wichtigste­n Erfolgsfak­tor, zeigt er auf den Trainer: „Die Ankunft von Urs Fischer im Juni 2018 hat ein neues Zeitalter eingeläute­t.“Gspurning schwärmt gegenüber der „Presse“vom Schweizer, der Klub und Trainertea­m mit „Fachwissen, Augenmaß und Menschlich­keit“führe. „Wir wissen, was von uns gefordert wird. Aber zugleich gibt dir Urs immer Rückendeck­ung. Du spürst immer das Vertrauen“, so der 39-jährige Steirer.

Bemerkensw­ert: Als die ersten Geisterspi­ele stattfande­n, stöhnten Union-Fans über einen „Wettbewerb­snachteil“, weil der zwölfte

Mann für ihr Team wichtiger sei als etwa für die abgeklärte­n Bayern. In der Union-Heimstätte im sonst beschaulic­hen Berlin-Köpenick herrscht in seuchenfre­ien Zeiten verlässlic­h eine elektrisie­rende Atmosphäre, eine der besten der Liga. Doch inzwischen ist das Stadion „An der Alten Försterei“zur unbemannte­n Festung avanciert. Vor leeren Rängen wurde Dortmund besiegt und dem Meister und Champions-League-Sieger aus München ein Remis abgetrotzt.

Viele Punkte, wenig Marktwert

Bei Bayern stand auch David Alaba am Platz. Die Pointe ist, dass der Marktwert des Wieners mit 65 Millionen Euro jenen des Kaders von Union Berlin übersteigt (rund 60 Mio. Euro, transferma­rkt.de). Von den 18 Bundesliga­klubs ist nur das Team von Arminia Bielefeld auf dem Papier schlechter bewertet.

Mit Leverkusen hat Union zuletzt erneut ein Spitzentea­m auf eigenem Terrain besiegt. Doch der 1:0-Erfolg war nah am Pyrrhussie­g. Verteidige­r Michael Hübner soll Nadiem Amiri, deutscher Teamspiele­r mit Migrations­hintergrun­d, als „scheiß Afghanen“beschimpft haben. Union bestreitet die Vorwürfe. Die Affäre kratzt am Image des populären Kultklubs, der sich gern gegen Kommerz oder Rassismus positionie­rt. Anders: Die „Eisernen“laufen Gefahr, in der Liga zwar viele Punkte gesammelt, aber zugleich in der Sympathief­rage auch viele verloren zu haben.

Am Samstag eröffnet Union gegen Augsburg seine Rückrunde. Dann beginnt die zweite Halbzeit im Showdown um den größten Erfolg der Vereinsges­chichte. In der Heimat der Unioner wirkte einst der „Hauptmann von Köpenick“, ein Schuhmache­r, der sich als Offizier ausgab und die Behörden narrte. Ein Theaterstü­ck verewigte seine Geschichte, die nach einer Weitererzä­hlung schreit: Das Wunder von Köpenick. Wie sich ein Klub als kleiner Außenseite­r ausgab und die Ligakönige narrte.

Die Ankunft von Urs Fischer hat ein neues Zeitalter eingeläute­t.“

Michael Gspurning, Union-Torwarttra­iner über den Schweizer Chefcoach.

Das Wort nehme ich nicht in den Mund.

Trainer Urs Fischer weigert sich hartnäckig, über Unions Chancen auf eine „Europacup“-Teilnahme zu reden.

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[ imago ] Der 1. FC Union Berlin zelebriert einen von 32 Saisontref­fern. Nur Bayern (49) und Dortmund (33) haben mehr Tore erzielt.

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