Das Wunder von Köpenick
Fußball. Der Kultklub 1. FC Union Berlin ist der große Gewinner der Hinrunde in der deutschen Bundesliga. Das liegt auch an einem Zauberer, an einem Schweizer – und an einem burgenländischen Tätowierer. Zeit für eine Zwischenbilanz.
Berlin. Zu den ältesten Fußballweisheiten zählt diese: Die zweite Saison ist für einen Aufsteiger die schwerste. In der ersten trägt einen die Euphorie des Aufstiegs und jedes Ligaspiel hat den Charakter eines Finales. Danach wird es härter, zumal für einen Verein, der in Geldfragen den Mitbewerbern teilweise haushoch unterlegen ist. Doch der 1. FC Union Berlin stellt diese Weisheit infrage. Der finanzschwache Kultklub ist das große Überraschungsteam der ersten Saisonhälfte. Auch das 0:1 bei Bayern-Verfolger RB Leipzig zum Hinrunde-Ende ändert daran nichts.
Die „Eisernen“plagt vor Beginn der Rückrunde nun ein Luxusproblem: Sie müssen sich nach einem neuen Saisonziel umsehen, weil das oberste längst erreicht scheint. Mit 28 Punkten nach 17 Spieltagen ist noch niemand abgestiegen. Die Tabelle weist Union seit Monaten auf einem Startplatz für den Europacup – aktuell auf Rang sechs – aus. Aber genauso lang wehren sie im Südosten Berlins schon Fragen danach ab, ob nicht der zweite Europacup-Start nach 2001 (damals als Cupfinalist) das neue Ziel sein müsste.
Meister der ruhenden Bälle
Christopher Trimmel träumt bereits. Wenn nicht vom Europacup, dann jedenfalls von der EM im ÖFB-Trikot. Als der Oberpullendorfer 2014 von Rapid zu Union, einem Mittelständler in der zweiten deutschen Liga wechselte, rieben sich viele verwundert die Augen. Heute ist der offensive Rechtsverteidiger
Teamspieler, in Köpenick Anführer und Fanliebling. Er ist auch ein Meister des ruhenden Balls, der Strafraumspieler mit butterweichen Flanken serviciert. Eine Begabung, die sich in Zahlen gießen lässt: Elf Assists lieferte Trimmel via Freistoß oder Eckball seit der Saison 19/20, mehr als jeder andere in Europas Top-fünf-Ligen.
Der bald 34-jährige Kapitän soll zurzeit um eine Verlängerung seines auslaufenden Vertrags verhandeln. Ein Scheitern der Gespräche wäre eine Überraschung. Trimmel, im Nebenberuf Tätowierer, ist eine Konstante in einem Klub, der im Sommer einen Umbruch vollzog, zwölf Neuverpflichtungen meldete und noch mehr Abgänge. Die „Eisernen“lotsten Max Kruse von Fenerbahce¸ Istanbul in die „Alte Försterei“. Im Rückblick ein Coup, damals aber auch ein Wagnis, weil der 32-jährige Offensivspieler eine fleischgewordene „Wundertüte“ist. Kruse hat so viele Ecken und Kanten wie Talent. An guten Tagen aber ist er ein Zauberer auf dem Platz.
Kruse hatte viele gute Tage. In seinen ersten elf Spielen bereitete er fünf Tore vor und erzielte sechs selbst, bevor ihn eine Verletzung auf die Tribüne zwang. Er mischte dem Union-Spiel den fehlenden Schuss Kreativität bei. Sein Ausfall und der von anderen Leistungsträgern wurde indes mit alten Tugenden kompensiert: mit der stärksten
Laufleistung der Liga, einer giftigen Zweikampfführung, geschlossenem Gegenpressing und mit einer gnadenlosen Effizienz vor dem Tor.
Wissen, Augenmaß und Gefühl
Fragt man Michael Gspurning, seit 2017 Torwarttrainer in Köpenick, nach dem wichtigsten Erfolgsfaktor, zeigt er auf den Trainer: „Die Ankunft von Urs Fischer im Juni 2018 hat ein neues Zeitalter eingeläutet.“Gspurning schwärmt gegenüber der „Presse“vom Schweizer, der Klub und Trainerteam mit „Fachwissen, Augenmaß und Menschlichkeit“führe. „Wir wissen, was von uns gefordert wird. Aber zugleich gibt dir Urs immer Rückendeckung. Du spürst immer das Vertrauen“, so der 39-jährige Steirer.
Bemerkenswert: Als die ersten Geisterspiele stattfanden, stöhnten Union-Fans über einen „Wettbewerbsnachteil“, weil der zwölfte
Mann für ihr Team wichtiger sei als etwa für die abgeklärten Bayern. In der Union-Heimstätte im sonst beschaulichen Berlin-Köpenick herrscht in seuchenfreien Zeiten verlässlich eine elektrisierende Atmosphäre, eine der besten der Liga. Doch inzwischen ist das Stadion „An der Alten Försterei“zur unbemannten Festung avanciert. Vor leeren Rängen wurde Dortmund besiegt und dem Meister und Champions-League-Sieger aus München ein Remis abgetrotzt.
Viele Punkte, wenig Marktwert
Bei Bayern stand auch David Alaba am Platz. Die Pointe ist, dass der Marktwert des Wieners mit 65 Millionen Euro jenen des Kaders von Union Berlin übersteigt (rund 60 Mio. Euro, transfermarkt.de). Von den 18 Bundesligaklubs ist nur das Team von Arminia Bielefeld auf dem Papier schlechter bewertet.
Mit Leverkusen hat Union zuletzt erneut ein Spitzenteam auf eigenem Terrain besiegt. Doch der 1:0-Erfolg war nah am Pyrrhussieg. Verteidiger Michael Hübner soll Nadiem Amiri, deutscher Teamspieler mit Migrationshintergrund, als „scheiß Afghanen“beschimpft haben. Union bestreitet die Vorwürfe. Die Affäre kratzt am Image des populären Kultklubs, der sich gern gegen Kommerz oder Rassismus positioniert. Anders: Die „Eisernen“laufen Gefahr, in der Liga zwar viele Punkte gesammelt, aber zugleich in der Sympathiefrage auch viele verloren zu haben.
Am Samstag eröffnet Union gegen Augsburg seine Rückrunde. Dann beginnt die zweite Halbzeit im Showdown um den größten Erfolg der Vereinsgeschichte. In der Heimat der Unioner wirkte einst der „Hauptmann von Köpenick“, ein Schuhmacher, der sich als Offizier ausgab und die Behörden narrte. Ein Theaterstück verewigte seine Geschichte, die nach einer Weitererzählung schreit: Das Wunder von Köpenick. Wie sich ein Klub als kleiner Außenseiter ausgab und die Ligakönige narrte.
Die Ankunft von Urs Fischer hat ein neues Zeitalter eingeläutet.“
Michael Gspurning, Union-Torwarttrainer über den Schweizer Chefcoach.
Das Wort nehme ich nicht in den Mund.
Trainer Urs Fischer weigert sich hartnäckig, über Unions Chancen auf eine „Europacup“-Teilnahme zu reden.