Als Reagan in Moskau Alzheimer überkam
Sind US-Präsidenten zu alt? Der russische Autor Jerofejew verriet soeben, was er 1988 mit Reagan erlebt hatte. Und plötzlich habe Reagan Jerofejew gefragt: „In welchem Land bin ich?“
Joe Biden ist fast ein Teenager – zumindest im Vergleich zu Enrico Dandolo. Der war an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert Doge in Venedig und am Ende seiner Amtszeit 97 oder 98. Was heute eher einem 110-Jährigen entspricht. Damit übertrumpft ein mittelalterlicher Venezianer den bisher ältesten Staatsführer des 21. Jahrhunderts, Prem Tinsulanonda: Er war 2016 mit 96 kurz Thailands Regierungschef.
Trotzdem ist die Frage „Wie viel geht noch mit 78?“angesichts des ältesten sein Amt antretenden Präsidenten der US-Geschichte berechtigt. Die Frage stellt sich nicht zum ersten Mal. Und bei Ronald Reagan war das Problem offenbar gravierender als allgemein bekannt.
Am Tag von Bidens Inauguration erzählte der bekannte Autor Viktor
Jerofejew dem russischen Radiosender „Echo Moskwy“von einem sehr speziellen Erlebnis, das er 1988 mit dem US-Präsidenten Reagan gehabt habe. Dieser war zum vierten Gipfeltreffen mit Gorbatschow nach Moskau gereist. Auf einem Empfang, so Jerofejew, sei er kurz zu dritt mit Reagan und einem Berater zusammengestanden, und plötzlich habe Reagan gefragt: „In welchem Land bin ich?“Der Berater und Jerofejew hätten Blicke gewechselt, „und beide verstanden wir, dass einfach die Demenz da war“. Er habe danach mit dem Leiter des Russland-Büros der „New York Times“darüber geredet, der beschlossen habe, den Vorfall nicht zu erwähnen.
Die Zeit, in der (auch anderen zufolge) schon erste Anzeichen von Reagans Alzheimer-Erkrankung auftraten, war also zugleich die Zeit, in der Reagan mit Gorbatschow Weltgeschichte machte.
Steigende Lebenserwartung macht natürlich das Alter zusätzlich historisch relativ. War Konrad Adenauer so gesehen nicht schon bei seinem Amtsantritt mit 73 älter als Biden? (Er ging mit 87.) Ganz zu schweigen vom zweiten römischen Kaiser, Tiberius, der vor zweitausend Jahren mit 77 zu herrschen aufhörte.
Eine andere historische Frage: Wie alt war Trojanerkönig Priamos in Homers „Ilias“? Der „greise“Priamos – so haben ihn Homer-Leser im Kopf. Aber eigentlich weiß man nur, dass er im Trojanischen Krieg schon zu alt zum Kämpfen war.
Dem römischen Dichter Martial reichte das vollauf, als er sein Epigramm über einen Mann schrieb, der ständig das Leben aufschiebt: „Morgen, versprichst du stets, zu leben, Postumus, morgen. Sage mir, Postumus, wann kommt dieses Morgen? (. . .) Priamus’ Jahre bereits und Nestors zählet das Morgen.“
Auch das wussten also schon die „alten“Römer: dass man nicht nur als Alter noch jung – sondern auch als Junger schon alt sein kann.
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