Erinnern Sie sich noch an „eine bessere Grippe“namens Corona?
Fast ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie sind die „Argumente“derer, die noch immer nicht verstehen wollen, was da los ist, immer schwerer zu ertragen.
Von Fakten lässt sich dieses Milieu so wenig beeindrucken wie das Virus von einer AspirinTablette.
Zuerst haben sie uns erklärt, es sei nur eine Art Grippe, und an der stürben ja auch jedes Jahr ein paar Tausend Menschen, wozu die Aufregung. Als sich zeigte, dass es doch mehr als eine normale Grippe war, haben sie uns gesagt, okay, aber es sterben ohnehin nur die Greise, die sonst halt ein paar Wochen später von uns gingen. Als dann die ersten 50-Jährigen auf den Intensivstationen um Luft und Leben kämpften, erklärten sie diese zu Einzelfällen. Als die Zahl der Infizierten stieg, haben sie uns gesagt, wir sollen nicht dauernd auf die Ansteckungszahlen starren, es ginge nur um die Zahl der Intensivpatienten. Als die explodierte, haben sie uns gesagt, nur die Anzahl der Verstorbenen sei relevant, und als auch die rasant stieg, riet uns ein bekannter Arzt, wir mögen doch einfach aufhören, die Toten zu zählen. Sie – und jeder von uns kennt einen oder eine – wankten von Irrtum zu Irrtum, ohne sich beirren zu lassen. Jetzt rotten sie sich halt, gleichsam als intellektueller Volkssturm, zusammen und brüllen wirre Parolen gegen das Impfen.
Uff. Es wird jetzt, knapp ein Jahr nach Beginn des Pandemie-Ausbruchs in Europa, immer anstrengender, sich die sogenannten Argumente der Leugner, der Relativierer und der Sich-Schönredner des Coronavirus und seiner Folgen mit der zivilisatorisch gebotenen Contenance anzuhören. Ein besonderer Fall von übermäßigem Strapazieren der guten Erziehung des Publikums bietet in diesen Tagen der Ex-Innenminister Herbert Kickl mit seinen Versuchen, den Corona-Narrensaum politisch zu bewirtschaften. Was ja grundsätzlich in einer Demokratie zulässig sein muss, nur manchmal eben ästhetisch recht herausfordernd sein kann.
Etwa, wenn er – ausgerechnet jetzt – von der Regierung ein Ende des Lockdowns verlangt. Und sich dabei auf eine Studie von in der Tat renommierten Wissenschaftlern beruft, die Länder mit (fast alle) und Länder ohne (Schweden, Südkorea) miteinander verglichen haben und zum Schluss kommen, dass in beiden Gruppen von Staaten ähnliche Ergebnisse in der Pandemiebekämpfung erzielt werden konnten (ein Argument, das übrigens auch die geschätzte Kollegin Gudula Walterskirchen in ihrem „Quergeschrieben“vom 18. 1. zustimmend aufgriff ). Was Kickl seinem Publikum nicht ohne Grund verschweigt: Sowohl Schweden als auch Südkorea können, aufgrund ganz spezieller soziokultureller Besonderheiten, teilweise auch ohne gesetzlichen Zwang bestimmte Änderungen des Verhaltens ihrer Bürger herbeiführen. In Schweden gilt eine „Empfehlung“der Regierung für die Mehrzahl der Bürger wie hierzulande ein mit Sanktionen bewehrtes Gesetz. (Schweden finden es ja auch völlig okay, ihre Einkommen und Steuerzahlungen offenzulegen, was hierzulande als Zumutung empfunden würde.) Und Südkorea hat, unter der Zustimmung der Bevölkerung, jede Privatheit abgeschafft; auch so kann man natürlich LockdownFolgen substituieren.
Das heißt: Die von Kickl und seinesgleichen so triumphal vorgetragene Studie mag noch so richtig sein – sie gibt kein belastbares Argument her, den Lockdown zu beenden, ohne gleichwertige andere Maßnahmen zu ergreifen, von denen die meisten bei uns wohl nicht umsetzbar wären.
Wobei Kickl das redlich erworbene Pech des Untüchtigen hat, dass ihm ausgerechnet Schweden, das in der Studie als Beispiel der „Ohne Lockdown geht es auch“-Politik angeführt wird, nun abhandenkommt. Denn die Regierung in Stockholm hat sich vom Parlament die Möglichkeit einräumen lassen, „Lockdowns“zu verhängen. Warum ausgerechnet die nordischen Erfinder der Ohne-Lockdown-Strategie zu diesem Mittel greifen, obwohl eine Studie doch angeblich nachweist, dass Schweden das nicht notwendig hat, das haben uns die Anhänger der Kickel’schen Denkschule leider noch nicht wissen lassen. Aber die Erfahrung des Coronajahres lehrt uns: Von Fakten lässt sich dieses Milieu so wenig beeindrucken wie das Virus von einer AspirinTablette.
Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
Morgen in „Quergeschrieben“: Anneliese Rohrer