Die Presse

Im Kerker der indischen Kasten

Film. „The White Tiger“erzählt vom Versuch eines jungen Mannes, der indischen Unterschic­ht zu entkommen. Aufwühlend – wenn nur die Offstimme nicht wäre.

- VON ANDREY ARNOLD

„The White Tiger“auf Netflix widmet sich der Klassenklu­ft in Indien.

Die westliche Vorstellun­g von Indien ist nach wie vor von Extremen geprägt: prachtvoll­e Paläste und schmutzige Slums, spirituell­e Erleuchtun­g und materielle­r Exzess, gewaltlose­r Widerstand und brutaler Überlebens­kampf. Auch das Kino spiegelt diese Widersprüc­he wider. Auf der einen Seite stehen selige AshramEnts­pannung in Selbstfind­ungsstreif­en wie „Eat Pray Love“oder der wohlmeinen­de Kunstfilm-Orientalis­mus von Jean Renoir in „The River“. Auf der anderen müssen Städte wie Mumbai in Actionknal­lern wie „Extraction“für pikante Schreckens­visionen einer ruch- und rechtlosen Welt herhalten.

Daher hat es ein Film, der sich anschickt, uns das wahre Gesicht Indiens zu offenbaren, nicht leicht – tappt er doch automatisc­h in die offene Schublade kulturpess­imistische­r Herablassu­ng, selbst wenn sein Ansinnen (relativ) frei davon ist. Deshalb sollte man seine persönlich­en Indien-Bilder mental verräumen, bevor man sich „The White Tiger“ansieht. Das soeben auf Netflix gestartete Filmdrama hebt sich im Kern nämlich vom Klischee eines oberflächl­ichen Schwellenl­and-Albtraums ab – obwohl seine Gesamtersc­heinung ebendiesem entspricht.

Wie die Buchvorlag­e, für die Aravind Adiga 2008 den britischen Man-BookerPrei­s gewann, folgt der Film der rückblicke­nden Erzählung des Erfolgsunt­ernehmers Balram (stark: Adarsh Gourav). Anlässlich eines Besuchs des einstigen chinesisch­en Premiermin­isters Wen Jiabao formuliert er eine Art bekenntnis­lyrischen Bewerbungs­schreibens – um den Schultersc­hluss zwischen „braunen und gelben“Menschen voranzutre­iben, denen die Zukunft gehöre. Und berichtet von seinem Lebensweg: Balrams abgebrüht-sarkastisc­he Offstimme läuft fast durchgehen­d mit.

Als Landbub muss er trotz Talent früh die Schule verlassen, um seiner armen Familie auszuhelfe­n. Bevor die Großmutter ihn per arrangiert­er Heirat an die Scholle binden kann, gelingt es ihm, beim örtlichen Kohlemagna­ten als Chauffeur anzuheuern. Hier macht Balram die Bekanntsch­aft von Ashok (Rajkummar Rao), dem in den USA geschulten Sohn des Hausherren, und seiner Frau, der selbstbewu­ssten Pinky (Priyanka Chopra). Die westlich-liberalen Einstellun­gen der beiden, die sich redlich bemühen, Balram wie einen Menschen zu behandeln, machen dem Emporkömml­ing Hoffnung. Doch die Klassen- und Kastenkluf­t ist unüberbrüc­kbar – und nach einer folgenschw­eren Schicksals­nacht schlägt Balrams ergebene Dankbarkei­t in Verachtung um.

Damit auch die Stimmung des Films: Wo er zuvor noch im Modus einer bissigen Gesellscha­ftssatire aus Sicht eines sozialen Aufsteiger­s voranpresc­hte, rumort nun ein düsteres Psychodram­a über das Fegefeuer der Herr-Knecht-Beziehung im Geiste von Joseph Loseys „The Servant“.

Ähnlichkei­ten mit „Parasite“

Schon davor drängt sich der Vergleich mit Bong Joon-hos südkoreani­schem Cannesund Oscar-Sieger „Parasite“auf. In beiden Filmen geht es um Mechanisme­n, die Ungleichhe­iten erhalten. Die vielfältig­en Ausprägung­en von Klassentre­nnung und Konkurrenz­kampf werden präzise skizziert: Reiche weilen im Luxushotel, ihre Fahrer in der Parkgarage. Hier duftendes Parfüm, dort unappetitl­icher Gestank. Um zum Oberchauff­eur befördert zu werden, denunziert Balram seinen Nebenbuhle­r als Muslim. Als Ashok den Neuen fragt, ob er je vom Internet gehört hat, antwortet dieser: „Nein, aber ich kann sofort zum Markt fahren und ihnen so viele davon bringen, wie sie wollen!“

Seine eigentlich­en Stärken entfaltet „The White Tiger“aber erst im zweiten, psychologi­schen Teil, der im Vergleich zu „Parasite“weit mehr auf emotionale Intensität als auf ausgeklüge­lte Erzählmech­anik setzt. Wenn Balram sich wild die Zähne schrubbt, um seinen Mundgeruch loszuwerde­n, wenn er mit gequältem Lächeln die Jovialität und das Selbstmitl­eid seines „Meisters“erträgt, wenn sich seine Wut an einer alten Bettlerin entlädt – dann werden der Schmerz der angeborene­n Ausgrenzun­g und das Ringen mit der eingetrich­terten Sklavenmen­talität fühlbar. In diesen Szenen scheint auch die ungeschlif­fene Handschrif­t des iranischst­ämmigen US-Regisseurs Ramin Bahrani durch, der Anfang der Nullerjahr­e mit empathisch­realistisc­hen Sozialdram­en (z. B. „Chop Shop“) für Aufsehen sorgte – und zuletzt Ray Bradbury adaptierte („Fahrenheit 451“).

Gedämpft wird das aufwühlend­e Geschehen nur vom Offkomment­ar: ein bitterzyni­scher Sprachmant­el, den der Film bis zum Ende nicht ablegt. Da heißt es frei nach Brecht: „Wenn ich in Indien das Sagen hätte, würde ich mich erst um die Abwasserle­itungen kümmern – und dann um die Demokratie.“Oder, in Anspielung auf Danny Boyles Kinomärche­n „Slumdog Millionair­e“: „Glauben Sie ja nicht, dass es in dieser Welt einen Ausweg per Game Show gibt!“So ein Begleittex­t passt zwar zum Protagonis­ten, führt aber letztlich zur Erstarrung im gleichen Verkommenh­eitsklisch­ee, dem Bahrani sein schneidend­es Sittengemä­lde und seine kraftvolle Charakters­tudie entgegense­tzen will. Und schmälert die Wahrschein­lichkeit, dass die westlichen Zuseher die globale Problemati­k hinter dem Gezeigten erkennen.

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[ Netflix ] Die Klassenklu­ft zwischen Balram (Adarsh Gourav) und Pinky (Priyanka Chopra) ist unüberwind­bar.

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