Die Presse

Die Rache des Islamische­n Staates

Irak. Die IS-Extremiste­n bekennen sich zum brutalen Attentat in Bagdad. Im Irak und in Syrien intensiver­en sie ihren Untergrund­krieg.

- Von unserem Korrespond­enten MARTIN GEHLEN

Tunis/Bagdad. Hunderte weißer Kerzen stecken in dem sandigen Boden. In ihrer Mitte liegen irakische Fahnen, um die Lichter herum kauern junge Leute. Sie trauern um die 32 Toten in ihrem Wohnvierte­l Bab al-Sharqi, die durch einen Doppelansc­hlag auf den örtlichen Kleiderbas­ar ums Leben kamen. In der Nacht zu Freitag bekannte sich der sogenannte­n Islamische Staat (IS) zum mörderisch­en Attentat auf den Arbeiterbe­zirk in Bagdad am östlichen Ufer des Tigris.

Der Angriff habe den schiitisch­en Muslimen gegolten, verkündete die Terrormili­z auf ihren Propaganda-Kanal bei Telegram, der auch die Namen der beiden Selbstmord­bomber nannte.

Nach Angaben von Augenzeuge­n täuschte der erste Täter plötzliche Bauchkrämp­fe vor. Als Passanten ihm zur Hilfe kamen, sprengte er sich in die Luft. Kurz darauf riss sein Komplize weitere Menschen in den Tod. Mehr als hundert Besucher und Händler des Marktes wurden verletzt. Fotos vom Tatort zeigten ein Bild der Verwüstung – blutende Opfer, abgerissen­e Gliedmaßen und zerfetzte Kleidertis­che.

Rückkehr in die Städte

Am Freitag entließ Ministerpr­äsident Mustafa al-Kadhimi den für die Geheimdien­ste zuständige­n Vizeinnenm­inister, den Direktor der Anti-Terror-Aufklärung sowie den Chef der Bundespoli­zei. „Sicherheit ist nicht nur ein Wort für die Medien, es ist eine Verantwort­ung“, erklärte der sichtlich verärgerte Regierungs­chef. „Wer seiner Aufgabe nicht gerecht wird, die Bürger zu schützen, der muss zurücktret­en.“

Denn dieses schwerste Attentat in Bagdad seit drei Jahren ist Indiz dafür, dass von der IS-Terrormili­z nach dem Untergang ihres „Kalifates“auch in den Städten wieder akute Gefahr ausgeht. In ländlichen Regionen dagegen gehören Überfälle auf Kontrollpo­sten, Morde, Entführung­en und Straßenbom­ben längst zum Alltag. Das Pentagon bezifferte die Zahl der Attentate im Irak für die ersten neun Monate 2020 auf 900, andere Quellen gehen von einer doppelt so hohen Zahl aus.

Nach Erkenntnis­sen des UNSicherhe­itsrates operieren im Irak und in Syrien nach wie vor 10.000 Jihadisten, deren Kämpfer sich ungehinder­t zwischen beiden Ländern bewegen. Ihre verblieben­en Geldreserv­en schätzt das US-Finanzmini­sterium auf 50 bis 300 Millionen Dollar.

Kleine Terrorkomm­andos

In dünn besiedelte­n Gebieten gebe es Hunderte, wenn nicht Tausende Verstecke, alle ausgestatt­et mit Kommunikat­ionstechni­k, Sprit, Generatore­n, Sprengstof­fvorräten und Bombenwerk­zeug, erläuterte Michael Knights vom „Washington Institute“. In der Regel sind die Terrorkomm­andos nicht größer als fünf bis 15 Mann. Der IS sei nach wie vor eine Bedrohung, räumte kürzlich Iraks Außenminis­ter Fuad Hussein ein und erklärte, sein Land brauche in dem Kampf Unterstütz­ung der Region und der internatio­nalen Gemeinscha­ft.

Auch wenn Iraks Anti-TerrorEinh­eiten immer wieder IS-Zellen ausschalte­n konnten, allein werden sie mit den Jihadisten nicht fertig. Sie sind angewiesen auf die Aufklärung durch USDrohnen und Luftschläg­e.

Trotzdem halbierte US-Präsident Donald Trump am Ende seiner Amtszeit die Zahl der im Irak stationier­ten Spezialkrä­fte von 5200 auf 2500 Mann. Damit schuf er ein Sicherheit­svakuum, das den Irak in einer politische­n und wirtschaft­lichen Multikrise trifft. Durch die Coronapand­emie fielen die Öleinnahme­n ins Bodenlose, die Arbeitslos­igkeit grassiert, die Regierung muss einen unpopuläre­n Sparkurs durchsetze­n. Die für Juni geplante Parlaments­wahl wurde bereits auf Oktober verschoben.

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