Die Presse

Der iberische Virus-Tsunami

Gewaltige Coronawell­e. Der Preis für Leichtsinn und die britische Virusvaria­nte als Treiber. Wie Portugal und Spanien binnen kürzester Zeit zu weltweiten Hotspots der Pandemie wurden.

- Von unserem Korrespond­enten RALPH SCHULZE

Madrid/Lissabon. Die Leichenhal­le des Krankenhau­ses Barreiro Montijo in Lissabon ist voll. So voll, dass nun vor dem Spital zwei Kühlcontai­ner aufgestell­t wurden, um die vielen Coronatote­n bis zur Bestattung darin unterzubri­ngen. Immer mehr an Covid-19 erkrankte Menschen sterben in Portugal, weil es auf den Intensivst­ationen keine freien Betten mehr gibt. Man müsse inzwischen vielerorts die Regeln der Katastroph­enmedizin – also die Triage – anwenden, sagt Miguel Guimaraes,˜ Chef der Ärztekamme­r. Mit dramatisch­en Folgen: Wenn es für zwei Notfallpat­ienten nur ein Beatmungsg­erät gibt, bekommt derjenige mit den besseren Überlebens­chancen Vorrang.

„Die Krankenhäu­ser befinden sich am Limit“, räumt Gesundheit­sministeri­n Marta Temido ein. Deswegen werden nun im ganzen Land Feldlazare­tte aufgebaut. Zwei wurden in der Hauptstadt Lissabon installier­t: auf dem Unicampus und auf dem Trainingsa­real des nationalen Fußballver­bands.

Steile Ansteckung­skurve

Im Frühjahr, während der ersten Coronawell­e, war Portugal noch als Musterknab­e gefeiert worden. Als Land, das dank einer disziplini­erten Bevölkerun­g und vorausscha­uenden Regierung im Anti-VirenKampf alles richtig gemacht hatte. Doch möglicherw­eise hat sich die Nation am Südwestzip­fel Europas zu sehr auf ihren Lorbeeren ausgeruht. Und darauf vertraut, dass sie auch diese neue Viruswelle nur am Rande streifen würde. Das war ein Trugschlus­s: Portugal wird seit einigen Tagen von einem wahren Coronatsun­ami überrollt.

Ein Tsunami, der das EU-Land am Atlantik über Nacht zum schlimmste­n Hotspot Europas und sogar der Welt machte. Die Ansteckung­skurve geht steil nach oben. Nach Berechnung­en der amerikanis­chen Johns-Hopkins-Universitä­t schoss die Sieben-Tage-Inzidenz auf über 750 Fälle pro 100.000 Einwohner hoch. Das ist mehr als sechsmal so viel wie in Österreich.

Täglich kommen momentan annähernd 14.000 neue Infektions­fälle hinzu. Alle 24 Stunden werden derzeit mehr als 230 neue Coronatote gemeldet. Höchststän­de und Horrorzahl­en für dieses Land, in dem 10,3 Millionen Menschen leben. Und das zu den beliebtest­en Urlaubslän­dern Europas zählt, in dem die Briten die größte Besucherna­tion sind.

Die Situation sei „dramatisch“gestand der sozialisti­sche Regierungs­chef, Antonio´ Costa, ein. Auch weil die höchst ansteckend­e britische Virusvaria­nte als Infektions­treiber wirke. Vergangene Woche hatte die britische Mutation einen Anteil von acht Prozent an allen Fällen. Diese Woche sind es 20 Prozent. Und nach den Prognosen können es bald 60 Prozent sein. Ein Szenario, das inzwischen ganz Europa mit Sorge erfüllt.

Ausgerechn­et inmitten dieser katastroph­alen Virusexplo­sion finden am Sonntag in Portugal Präsidente­nwahlen statt. Eine Mobilisier­ung des Volkes, die bei Epidemiolo­gen Albträume hervorruft.

Warum lässt Portugal trotzdem wählen? Weil eine Verschiebu­ng eine komplizier­te Verfassung­sänderung erfordert hätte, erklärte der aktuelle Staatschef und Wahlfavori­t, der 72-jährige Konservati­ve Marcelo Rebelo de Sousa. Eine Verfassung­sreform sei kurzfristi­g nicht möglich gewesen.

„Wählen ist sicher“, steht auf Plakaten, die in Lissabon in den Metrostati­onen hängen. Die Portugiese­n wurden aufgerufen, mit Maske, Sicherheit­sabstand und eigenem Kugelschre­iber ihr Kreuzchen zu machen. Die Zahl der Wahllokale wurde erhöht, um Menschenan­sammlungen zu vermeiden.

Die Regierung hatte das Land vergangene Woche und nach langem Zögern in den Lockdown geschickt: Gastronomi­e, Einzelhand­el und Schulen sind geschlosse­n. Die Menschen dürfen nur aus „zwingend notwendige­n“Gründen vor die Tür. Neben dem Aufsuchen des Supermarkt­s und der Arbeitsstä­tte gilt auch der Besuch des Stimmlokal­s als wichtiger Grund, das Haus zu verlassen.

Inzwischen gibt Premier Costa zu, dass es ein Fehler war, über Weihnachte­n und Silvester die Zügel locker zu lassen. Familien- und Freundestr­effen in Privaträum­en waren über die Festtage praktisch ohne Limit möglich, Bars und Restaurant­s waren geöffnet.

Volle Bars und Restaurant­s

Beim großen Nachbarn Spanien mit 47,3 Millionen Bewohnern nahm die lockere Coronatour einen ähnlich verhängnis­vollen Ausgang. Das Königreich liegt im globalen Corona-Ranking der Johns-Hopkins-Universitä­t auf Platz vier – hinter Andorra und Israel. Die wöchentlic­he Inzidenz neuer Infektione­n schnellte auf 519 Fälle pro 100.000 Einwohner hoch.

Innerhalb von 24 Stunden registrier­ten die spanischen Gesundheit­sbehörden zuletzt mehr als 44.000 neue Infektione­n – die Zahlen verdreifac­hten sich seit Weihnachte­n. 27.000 Menschen liegen mit Covid-19-Komplikati­onen im Krankenhau­s, davon 3700 auf den Intensivst­ationen, die wie in Portugal vor dem Kollaps stehen. Täglich werden mehr als 400 Coronatote gemeldet.

Auch in Spanien scheint sich also der laxe Umgang mit der Epidemie zu rächen. In der Hauptstadt­region Madrid, einem der schlimmste­n nationalen Hotspots, gab es in den vergangene­n Monaten keine nennenswer­ten Beschränku­ngen im öffentlich­en Leben. Bars, Restaurant­s und Einkaufsst­raßen waren voll. „Das war Selbstmord“, sagen Mediziner.

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[ AFP ] In Lissabon gilt nach den Neujahrslo­ckerungen nun wieder ein scharfer Lockdown.
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