Flut an Bekenntnissen von Inzestopfern erschüttert Frankreich
MeTooInceste. Nach einem Enthüllungsbuch von Camille Kouchner debattiert Frankreich über lang verschwiegene Verbrechen in Familien.
Paris. Die Publikation des Buchs „La Familia grande“der Juristin Camille Kouchner über die Vergewaltigung ihres damals 13 oder 14 Jahre alten Zwillingsbruders durch den Stiefvater, den in Frankreich sehr bekannten Politologen Olivier Duhamel, hat eine heftige Debatte ausgelöst. Dass die Autorin Tochter eines Ex-Außenministers und Gründers von Ärzte ohne Grenzen ist, hat dabei die Wirkung erhöht.
Das feministische Kollektiv Nous Toutes hat auf Twitter mit dem Hashtag MeTooInceste eine seit Langem geplante Kampagne über Pädokriminalität im Bereich der Familien gestartet. Das Echo ist gewaltig, der Inhalt der Beiträge schockierend. Nach bloß drei Tagen wurden fast 80.000 Tweets aufgeführt. Die kurzen Texte der heute Erwachsenen beginnen oft ähnlich: „Ich war sechs, dann sieben, acht und zuletzt neun Jahre alt, als mein Bruder mich vergewaltigte. Bis heute versuche ich, mich mit dem Kind zu versöhnen, das ich damals war und das ich oft aufgegeben zu haben glaubte.“Das schreibt auf Twitter Laurent Boyet, der vor drei Jahren selbst ein Buch dazu veröffentlicht hat.
„Ich war fünf, als eines Abends der Bruder meiner Mutter . . .“, beginnt Marie Chenevance. Loubna Meliane enthüllt zum ersten Mal: „Ich war neun, und nie werde ich das Gefühl der Scham, der Schuld und der Verletzbarkeit vergessen. Er heißt Khalid Meliane. Er war mein Vater, er hat mich bis zu meinem 17. Lebensjahr vergewaltigt.“Manchmal schreiben nicht die Opfer selber, sondern andere Familienangehörige: „Meine Mutter, die mit zwölf im Familienkreis vergewaltigt wurde, hat sich mit 18 das Leben genommen. Ich bin wegen dieser Vergewaltigung geboren worden. In meiner Familie spricht niemand von ihr, das ist verboten“, steht in einem mit dem Grabfoto seiner Mutter bebilderten Tweet von Christian Guemy.´
Komplizenhaftes Schweigen
Die Schriftstellerin Christine Angot, selbst Opfer eines Inzests, versuchte im Radio France-Inter ein Missverständnis zu beseitigen: Wenn es oft heiße, die Opfer „wollten nicht reden“, sei das falsch, denn diese „könnten nicht“, weil ihr Mund wie verschlossen sei.
Im Fall Duhamel hat das Opfer erst heute, nach mehr als dreißig Jahren, eine Strafanzeige eingereicht, die wie in vielen Fällen wegen der Verjährung nicht zu einem Prozess führen dürfte.
Wie zuvor schon die Kampagne MeToo nach dem Weinstein-Skandal erlaubt es die Netzwerk-Öffentlichkeit, das Schweigen über eine Unzahl von individuellen Fällen von Pädokriminalität mit Inzestcharakter zu brechen und auch die oft komplizenhafte Rolle der familiären Umgebung der Täter anzuprangern.
Die Anthropologin Dorothee´ Dussy erinnert daran, dass seit Jahrzehnten schon in Europa fünf bis zehn Prozent der Kinder Opfer von sexueller Gewalt durch dominierende Männer im Familienkreis werden und dass der Inzest als „strukturierender Faktor der sozialen Ordnung“zu betrachten sei.
Wie reagiert die Politik? Premierminister Jean Castex erklärte: „Es scheint, dass da eine wahre Problematik existiert.“Eine Gesetzgebung „unter dem Eindruck der Emotion“möchte er aber vermeiden. Der Staatssekretär für Kindheit, Adrien Taquet, forderte indes die Abgeordneten der Nationalversammlung auf, dafür zu sorgen, dass nicht erneut unter „der Decke der Verleugnung“alles relativiert oder vertagt werde.
Da traf es sich, dass im Senat jüngst eine Gesetzesvorlage verabschiedet wurde, die besagt, dass sich Erwachsene bei Geschlechtsverkehr mit Minderjährigen unter 13 Jahren nicht auf eine „Zustimmung“berufen können, sondern sich eines sexuellen Verbrechens schuldig machen. Der Inzest bleibt vorerst in Frankreich nur ein „strafverschärfender Umstand“und kein separater Straftatbestand. Das könnte sich aber mit der laufenden Debatte ändern.