Tipps fürs Netz-Theater zwischen Heiterkeit und Historie
Stream II. Gert Voss als Lear, Joachim Meyerhoff spielt Shakespeare, Thomas Bernhard – und ein Flüchtlingsprojekt des Salzburger Landestheaters.
Wer sind diese Nibelungen? Vier junge Leute machen sich auf der Homepage des Detmolder Theaters lustig über den uralten Stoff: Kunigunde? Nein, Kriemhild! Nur Siegfried kennen alle. Einer der Burschen stülpt sich ein Nudelsieb aus Metall über den Kopf – als Helm. Witzige Erläuterungen von Klassikern für ein junges Publikum, das oft nicht einmal mehr in der Schule Goethe und Schiller studiert, gibt es schon länger auf der Internetplattform YouTube: Durchaus intelligent wird Weltliteratur illustriert, etwa mit Lego-Figuren („Faust to go“).
Mit der Coronakrise hat die Bühnenkunst das Internet erreicht. Seit dem Frühjahr 2020 erfolgte eine wahre Explosion von Formaten auf den Homepages der Theater. Allerdings sind die meisten nicht neu: Es gibt Aufzeichnungen von alten und neuen Aufführungen, Blogs, Debatten und Clips.
Für die meisten kompletten Produktionen muss man zahlen, meist ein paar Euro, keine normalen Kartenpreise. Auf YouTube gibt es jedoch sehr viele Produktionen in voller Länge umsonst, so etwa Shakespeares „Viel Lärm um nichts“in der Regie von Jan Bosse mit Christiane von Poelnitz, Joachim Meyerhoff oder Nicholas Ofczarek (Burgtheater: 2006). Als Film besser gelungen ist Shakespeares „König Lear“(mit dem verstorbenen Groß-Mimen Gert Voss), inszeniert von Luc Bondy (Burgtheater: 2007).
Derzeit ist die Burg im Internet bei Weitem nicht so stark vertreten wie früher, es gibt Probeneinblicke (etwa in Oscar Wildes „Bunbury“), Debatten (Homepage) oder amüsante Schauspieler-Solos (YouTube). Burgchef Martin Kusejˇ lässt dazu ausrichten: „Theater ist ein besonderes Medium, das im Moment stattfindet, das geht im klassischen Streaming verloren. Ebenso der gemeinsame Atem und die Energie zwischen Bühne, Schauspielern und Zuschauerraum.“
Andere sehen das anders. Das Salzburger Landestheater bietet am 30. Jänner eine Uraufführung als Streaming-Premiere an: „|Ersthelfer | FirstAid“, in dem dokumentarischen Projekt von Nuran David Calis geht es um die Hilfsbereitschaft von Salzburger BürgerInnen während der Flüchtlingskrise 2015. Eine weitere digitale Premiere gilt auch Thomas Bernhards „Heldenplatz“in der Regie von Alexandra Liedtke (Claus Peymanns legendäre Uraufführung von 1988 ist in voller Länge auf YouTube zu erleben).
„Woyzeck“, Tschechow dekonstruiert
Rührig unterwegs im Netz sind unsere großen Nachbarn. Das Deutsche Theater in Berlin zeigt heute im Stream „Woyzeck Interrupted“, eine Büchner-Variation von Mahin Sadri und Amir Reza Koohestani (Tickets über die Plattform dringeblieben.de, diese bietet ein breites Programm, ästhetisch wie inhaltlich, neben Aufführungen für Erwachsene und Kinder, DJ-Sets, Partys, Coaching oder Lesungen).
Zwei Produktionen seien hier noch erwähnt wegen ihrer Bedeutung: Das Deutsche Theater in Berlin zeigt Tschechows „Onkel Wanja“(2008) in der Regie des verstorbenen Meisters des Abgründigen, Jürgen Gosch, leider ist die filmische Qualität nicht besonders gut. Als Kontrast dazu sind Tschechows „Drei Schwestern“, inszeniert vom Theater-Muntermacher Simon Stone 2016 am Theater Basel, auf YouTube spannend zu sehen. Hier werden große Umbrüche in der Bühnenkunst in relativ kurzer Zeit sichtbar. Bekannte Texte werden komplett neu geschrieben. Noch größer ist die ästhetische Kluft zu nostalgischen Aufführungen, wie sie (neben Kabarett mit Niavarani & Co.) auf player.globe.wien zu erleben sind.
Seinen Horizont erweitern in Richtung des angelsächsischen Raums kann der Theaterfan auf digitaltheatre.com. Das Abo kostet 9,99 Euro pro Monat. Man sieht, die Preise für Theater-Stream-Offerte richten sich nach den Filmstream-Angeboten. Auch Netflix und Amazon Prime bieten im Übrigen Theateraufführungen an, etwa „Macbeth“oder Shakespeares „Henry V.“(nein, nicht mit Laurence Olivier, sondern mit Kenneth Branagh, 1990). (bp)