„Vati“: Monika Helfer erzählt wieder von ihrer „Bagage“
Erinnerung – wie geht das? Nachdem sie in „Die Bagage“ihren Großeltern ein Denkmal gesetzt hat, erzählt Monika Helfer von ihrer Kindheit zwischen Almwiesen und beengten Bregenzer Zimmern – forschend, gedankenflüchtend und so ganz anders, als wir das vom k
Was hat sie uns Leser doch betört mit ihrer „Bagage“. So zart, so zauberhaft erzählte Monika Helfer uns da von ihrer Großmutter, hoch auf dem Berg, der wunderschönen Maria mit den pechschwarzen Haaren, ein Schneewittchen, das einen ebenfalls pechschwarzen Prinzen an ihrer Seite wusste und eine Schar von Kindern. Nur diese Prinzessin war arm, bettelarm, und sie blieb es, ihre Schönheit wurde ihr zur Last in einer Welt, in der mächtige Männer glauben, sie dürften jede Schönheit besitzen, das Leben war hart, im Krieg, aber auch ohne Krieg, und ihre Kinder, die hatten bald niemanden mehr, nur einander. Denn es ist ein trauriges Märchen, so traurig wie das Leben manchmal ist, und manchmal auch so fröhlich, denn diese Bagage, wie sie im Dorf genannt wurden, schlug sich durch, ob sie dafür wildern musste oder den Bürgermeister bedrohen – und sie hielt zusammen.
Was kann darauf folgen? Auf diesen Roman, der noch heute ganz oben auf den Bestsellerlisten steht, und in den Helfer so viel Herzblut hineingelegt hat, so viel Liebe. Ein weiteres wahres Märchen? Oder im Gegenteil ein Buch, in dem wieder mehr erfunden ist? Das sich nicht an die Realität anlehnt?
Die Vorarlberger Autorin hat sich entschieden, noch ein bisschen mehr in der Vergangenheit zu stöbern, aber sie wählt diesmal eine schlichtere Form. Man könnte Memoir dazu sagen, wäre dieser Begriff nicht so abgedroschen – und eng. Denn das Memoir, wie man es kennt, wie es durch Knausgard,˚ Stuckrad-Barre und andere modisch wurde, bezieht einen großen Teil seines Reizes aus der Tatsache, dass es um „Authentizität“geht, dass das, was wir erfahren, angeblich wirklich geschehen ist und uns so schaudern oder staunen macht. Da geht es auch um narzisstische Spiegelungen. Um das große Autoren-Ich.
In „Vati“dagegen ist es einerlei, ob sich all dies so zugetragen hat, ob der Vater wirklich vor lauter Angst, er könnte bei einem Diebstahl ertappt werden, Gift getrunken und nur knapp überlebt hat. Oder ob damals, bei der Beerdigung der Mutter, der Onkel tatsächlich so laut betete, dass die Krähen aufflogen. Und vor allem: Während im klassischen Memoir die schreibende Person im Mittelpunkt steht, borgt uns Monika Helfer nur ihren Blick, sie fragt nach (für sich, für uns), sie forscht und kramt in ihrem Gedächtnis, sie betrachtet Fotografien, und sie überprüft: Wie ist das gewesen? Kann es so gewesen sein? Und sie lässt die Gedanken schweifen: „So tagträume ich mich zurück, bilde mir die Sommerwiese ein . . .“Eine Sommerwiese, die von ferne tiefblau erscheint, „als hätte oben ein Schreiber sein Tintenfass ausgeleert“. Und beim näheren Hinschauen ist es der wuchernde Enzian.
Und so begegnen wir der Autorin mehrfach: als kleiner Monika, die barfuß über Wiesen läuft und die mit ihrem Vater im Wald einen Schatz vergräbt, einen Schatz, der vielleicht immer noch dort in der Erde liegt, denn: „Es gehört sich für einen Schatz, dass er nicht gefunden wird.“Als erwachsener Frau, die mit ihrem Mann und den Kindern dorthin zurückkehrt, um zu erzählen, wie sie einen Regenwurm geschluckt hat und voller Panik nachts aufwachte, weil sie glaubte, der Wurm wachse in ihrem Bauch. Und der Vater ging mit ihr in den Schopf, wo er ein Laboratorium eingerichtet hatte, er suchte einen Wurm und beträufelte ihn mit Salzsäure: Kein Wurm überlebt im Magen.
Und wir begegnen der erwachsenen, der älteren Frau, die mit ihrer Stiefmutter darüber diskutiert, ob der Vater damals all diese Bücher „beiseitegeschafft“oder „geklaut“hat. Oder ob keines von beidem, ob die Bücher, die ein Gönner dem Kriegsopfer-Erholungsheim gespendet hatte, irgendwie doch ihm gehörten – nicht, weil er dieses Heim leitete, sondern weil er sie gelesen, weil er ihnen eine Bibliothek gezimmert hatte.
Und so lernen wir langsam, in kreisförmigen Bewegungen, diesen Josef kennen, den niemals anerkannten Sohn des Bauern, der im Schuppen neben dem Haus aufwuchs, wo die Pfosten der Betten in Schüsseln mit Wasser standen, das Ungeziefer fernhalten sollten. Der im Krieg ein Bein verlor, dann den Aufstieg schaffte, als Leiter des Kriegsopfer-Erholungsheims auf der Tschengla über Köchin und Zimmermädchen gebot, der dann seinen Beruf und seine Frau verlor, der so leise war, dass jeder ihm zuhörte, auch die Rabauken aus der Bagage – und dann wieder überraschend laut. Der für die Kinder nicht da sein konnte, als sie ihn brauchten, der sie im Stich ließ, selbst zerstört vom Krebstod seiner Frau, von Monika Helfers Mutter.
Die Kinder werden getrennt, wenn doch die Bagage nie voneinander getrennt werden darf, auch nicht in der zweiten Generation. Monika und Renate finden bei Tante Kathe ein provisorisches Zuhause, leben im Wohnzimmer, und es ist schade, dass hier, im letzten Teil der Geschichte, die Autorin die poetische Geduld mit sich selbst und den Ihren zu verlieren scheint.
Aber das ist nur eine kleine Beckmesserei. „Vati“entfaltet in schlichten Worten, in kurzen, melodischen Sätzen die Geschichte von Josef, aber nicht nur das: die Geschichte von Vater, Mutter, Kind, den Geschwistern, aber auch von Helfers Mann und den Kindern, von ihrer Tochter Paula, die gestorben ist – und ich wollte hier ihre Sätze über die Idylle zitieren, aber ich kann es nicht, denn sie sind zu intim und greifen zu sehr das Herz an, als dass sie in einer Zeitung gedruckt werden sollten. Das geht nur in einem Buch.
Aber wir wollen nicht traurig enden, und zum Glück gibt es ja dann doch noch ein bisschen Märchen in diesem Buch: Wir erfahren etwa, wie die Eltern sich kennengelernt haben: die Grete, die wir ja schon aus der „Bagage“kennen, diese Scheue, die der Vater für ein Kuckuckskind hielt, und die deshalb kein gutes, nein, gar kein Wort von ihm zu erwarten hatte. Und der kriegsversehrte Josef. Die beiden treffen sich in einem Lazarett, und Grete ist plötzlich gar nicht mehr scheu, sie ist mutig, macht dem Mann, den sie pflegt, einen Heiratsantrag – er sagt Ja. Und dann fliehen sie: „In dem Durcheinander am Ende des Krieges fiel niemandem auf, wenn ein Krüppel fehlte. Es war eher günstig, wenn einer fehlte. Ohne sich abzumelden, machten sie sich aus dem Lazarett davon. Grete entwendete zwei Krückstöcke für ihn und einen Mantel, der einem Arzt gehörte. Zwei hingen in der Garderobe, ein guter und ein besserer. Sie nahmen den besseren. Sie führte ihn in den hintersten Wald. Zu ihren Geschwistern. In das kleine lumpige Elternhaus mit dem leeren Stall und der leeren Scheune.“
Und sie lebten bis an ihr Ende.
Monika Helfer Vati Roman. 176 S., geb., € 20, 60 (Hanser Verlag, München)