Brusatti: Nicht diese Töne!
Nostalgiker beginnen schon zu betteln. Bitte traut euch wieder etwas beim Komponieren und Vorführen. Heraus aus einem Kadenzschema für Anfänger. Einmal vielleicht wenigstens eine harmonische Rückung! Verbrauchsartikel Musik: eine Brandrede.
Musik heute? Heraus aus einem Kadenzschema für Anfänger. Einmal vielleicht eine harmonische Rückung! Eine Brandrede von Otto Brusatti.
Die vielen Purzelbäume, die unsere vor allem für Musik empfangsbereite Seele während der schon zur Routine gewordenen Corona-Angst oder -Drohgebärden mitmachen musste, haben irgendwie auch das Denken über den Faktor Musik neu bestimmt. Zur Erinnerung vielleicht: Das, was mit Musik zu tun hat (vom Machen über ihren Einsatz quasi allüberall, vom Ideologisieren bis zu Präsenzen, die sich weder um politische Systeme noch um erste bis meinetwegen auch vierte Welten scheren) ist neben dem Waffen- und Drogenhandel zu einem der größten globalen Geschäftszweige gewachsen. Und es passiert (womit schon eine Schlussfolgerung dieser Zeilen vorweggenommen wird) mit fast ausschließlich immer denselben paar Harmoniefolgen und simpelsten Grundrhythmen.
Nehmen wir ruhig nach so einer Behauptung jetzt auch ziemlich heftige Proteste der angeblich Formulierenden des Zeitgeschmacks in Kauf. Aber das, was noch bis vor einigen Jahrzehnten als Mensch-Faktor, als Ästhetikum namens Musik formuliert worden ist, hat sich zum Ohren-, Gefühlsund Konsum-Fast-Food gewandelt. Oder, mehr noch, Musik hat die Ansprüche, das Ergebnis eines denkenden und zugleich empfindenden, jedenfalls aber sinnlich-intellektuellen Menschen mit dem steten Bedürfnis nach Verfeinerung oder Erkenntniserweiterung zu sein, zugunsten von Hörfraß und Schallglocken weitgehend aufgegeben. Bewusst und aufoktroyiert zugleich. Oder? Das unsprachliche Feld der Empfindungen schlechthin wurde zur dummen Genusspiste plattgewalzt. Oder?
Ein paar Beispiele, um dieses weite Feld abzustecken. Wir bleiben gleich im Aktuellen. Fernsehen am Silvestertag. Dutzende an Programmen. Die Angebote der Volkstümlichen wachsen sowieso zum Jahreswechsel. Aber dann. Neben stundenlangem und sich ins 2021er hineinziehendem Massengehopse ein Block, eine schiere Endlosshow. Die bunte, andauernd sich wie im Kreis bewegende Lusthölle. Man bewirbt sie sogar mit Protz. „Die besten 100 Songs, die die Welt bewegten“. Sehr spannend. Die Songs wurden alle mit den dafür damals wie heute fabrizierten Videoclips oder Ähnlichem vorgeführt und blockweise wiederholt. In Pracht, ja. In weitestgehender, alter Pop-Pracht, manchmal durchsetzt mit einem Abba- oder Beatles-NachfolgeSchmus. (Wenig Sorge nun, bitte. Es folgt keineswegs, interludierend diesen Bericht, ein kindisch-baffes Bedauern. Man hätte bei den allerbesten Liedern doch das eine oder andere vermisst. Zu Recht. Denn da wäre schon noch Fesches an- und vorzuführen gewesen. Schuberts „Erlkönig“etwa, vielleicht auch das dritte der Wesendonck-Lieder, ein Trecento-Madrigal, ein Carlos Gardel oder gar ein später Webern oder ein abgründiges Wienerlied.)
Und dann? Zur selben Zeit ging das Beethoven-Geburtstagsjahr zu Ende. Ein Desaster war es mit ein paar wundersamen und ebenfalls für unsere Umbruchzeit bemerkenswerten Spitzen. Musikalisch, von musikinnovativ schon gar nicht mehr zu reden, ist es eine große Abbruchzeit ohne viel Aussichten oder doch anklingenden frischen und spannenden Interpretationen gewesen. Nicht einmal am Tonträgermarkt. Und im Beethoven-Schaugeschäft? Filmisch? Wir denken etwa an diesen komischen „Louis van . . .“, der auf mehreren Sendern vor Weihnachten lief und durch hüpfende Skurrilitäten erfreute, von einer ärgerlichen Masse an Fakten-, Orts- und Bilderfehlern nicht zu reden; oder an so manche betuliche Halbdoku. Ein „Ludwig van“, wie Maurizio Kagel den vor einem halben Jahrhundert uns entgegengeschmissen hat?
Weit und breit nichts. Im Ausstellungsbereich? Ein bisschen kleiner Nationalprunk etwa in deutschen Orten oder in Wien und Baden sowie im Wiener KHM, „Beethoven bewegt“, wo man ein Sammelsurium aus erstklassigen Autografen und Gemälden, garniert in betulich-zeitgenössischer Kuratorenkunst, in Bild und Ton zeigt. Und wir denken dann: Eigentlich geht es genauso zu wie in den Gehopse-Videos.
Musik, weltweit flächenabdeckend, ist eben einfach nur mehr ein Geschäft und letztlich alles überschüttend (ja, selbst das, was E-Musik noch immer heißt und womit sich ein kleiner Gesellschaftsteil weiterhin vom angeblichen Konsum abzugrenzen erlaubt), Musik also ist ein Faktor auf dem Weg in sich permanent verengende Konsumware, aber immer prächtiger ausstaffiert. Auf dem Weg dorthin? Wir waren auf dem Weg. Wir wurden – sagen wir noch kalmierend: möglicherweise – bereits auf eine Akzelerationsrutsche gesetzt.
Und wenn – wir müssen doch den Vergleich ziehen, es bleibt uns nichts übrig, selbst unter den Beobachtungen, dass es einen schon ankotzt, alles unter solchen Gesichtspunkten quasi negativ, aber gläubig zu sehen –, wenn also die Pandemie pandemisch auch erkennbar und durchschaut mit Konsequenzen überregional durchgedacht ist (und sowieso noch sehr lange nicht besiegt), dann geht es, salopp jetzt gesagt, auch anderwärtig ähnlich zu.
Der Mensch- und Menschheitsfaktor Musik, das stärkste Umfeld, das sich dieser Mensch erzeugt hat, mutierte, hat schon – erst jetzt langsam erkennbar – zu mutieren begonnen, lang bevor irgendwelche neue Viren sich räkelten und dann breitmachten. Wir haben heutzutage wenigstens schon die Chance, das aktiv mitzuerleben. Musik (klammern wir jetzt einmal so manche Religion und den Sex aus) als höchste Verbindung von Emotion (Abscheu bis Lust) und Intellekt (Gebrauchsgegenstand und Geschäft) definiert sich weiterhin neu, sich dabei aber in den Spielarten noch beschleunigend, fast alles zurücklassend und doch nur in ausschließlich alten Gewändern auftauchend.
Neues Material jetzt. Manchmal – noch – scheinbar nicht recht zusammenhängend oder provokativ erzählt . . . Oder ein Schauen auf Musik, dargestellt mit Tricks wie aus der Rap-Kiste.
Die Folgen und sogar schon die Voraussetzungen sind anderer Art als je vermutet. Eine Pandemie ist ein Katalysator. Sie öffnet vielleicht die Augen, Ohren und Erkenntnismöglichkeiten für Bedürfnisse (oder empfangsbereite Seelen). Die großen Kulturschlachtschiffe werden aber bald obsolet sein, die Basiskultur ist schon auf dem Weg dazu. Die Schuldfrage: niemand, Gesundheitskosten plus Genussverbleib gehen vor.
Das scheinbar notwendig jede Woche hervorzubringende Neue im Stargewand? Lesen wir im Boulevard von vorgestern oder in verkrampften und seit Monaten vor allem nur mehr klagenden Kulturberichterstattungen. Es wird schon kaum mehr der Tatsache nachgeweint, dass es etwa im Fall von Neuer Musik nichts mehr gibt, was wirklich länger als eine Woche spannend sein kann. Der Journalismus über Popmusik (pars pro toto jetzt genannt), der sich gern als grenzgeniales Feuilleton geriert und bei angesagter Bejubelung etwa eines Sternchens, das eben ein Zweitonlied herausgebracht hat, im dazu fabulierten Text von dem Reimpaar Herz-Schmerz oder gar schon Seelennarben herumsingt, wird immer armseliger.
Es geht um die breit schillernde Uniformierung weltweit, vom Songcontest über fernöstlichen Dulliöh, gehupft auf Plastikbühnen, bis zu Film-Video-Digital-Kunst mit fast nur mehr jungen, zumeist ein wenig zu sehr ausgepolsterten Frauen oder BoyBands, geschmückt wie ein Sterntaler.
Es besteht die Musikwelt aktuell wie auch rekapitulierend aus stundenlangem Dreiklangsschrott in maximal drei Rhythmusvarianten.
Musik (neu dargeboten, scheinbar frisch erfunden) gleicht so jenem aktuell gehätschelten Netflix, also scheinperfektes Getümmel mit permanenter Märchenerlaubnis, gegenübergestellt der tatsächlich einst dargebotenen Möglichkeit für eine neunte Seligkeit im theatralischen, parasakramentalen Erleben.
Aber eben, erstens, und das akzeptiert sogar die schon etwas allzu sehr orthodoxe Ästhetik, ist die Entwicklungsstufe der Musik, etwa seit 1000 Jahren und durchlaufend zunächst den Geist (Modales, Isorhythmik), die Sinne (Oper) und dann die Erde (Weltmusik), eine eben neue, pandemische, sie ist Verpackung als Leckerei. Und zweitens: Es spielt sich, apropos Pandemie, in der Präsenz des Weltfaktors Musik (vom Machen und Wiederholen bis zum Verkaufen) eine radikale Umdeutung, ein radikaler Umgang mit ihr ab, wachsend aus den Ausläufern (in Minimalismus ebenso wie in Rap oder Zwei- bis Dreitongesang) hinein in eine vielleicht neue Welt (eine Blase bloß, doch ein Kosmos, ein lustiger Hinterhof, dessen Spielarten langsam diese unsere erdige und verbaute Welt überziehen).
Die Nostalgiker beginnen augenzwinkernd zu betteln. Bitte! Einmal sich wieder etwas trauen beim Komponieren und Vorführen. Heraus aus einem Kadenzschema für blutige Anfänger. Bitte: einmal vielleicht eine harmonische Rückung, etwas Terzverwandtes, dem Schema des PrimitivI-IV-V-I-Kadenzierens etwa – eh ganz kurz – in andere Stufen entweichen, so wie man das spätestens in der dritten Musikdoppelstunde in einschlägigen Volkshochschulen lernt, von Hemiolen oder auch nur scheinmutigen kleinen Rhythmusverschiebungen außerhalb des Rap-Herumfuchtelns nicht zu reden.
Man hat bereits mit dem Vor-uns-Hinschmeißen solch einer Musik allein in, offenbar beispielhafte, etwa „100 beste Songs“eine Veränderung erzielt, nein, einen Sprung sogar, nein, das Neudeuten von Kunst mit alten und verprimitivten, aber höchst artifiziellen technischen Mitteln. Die Musik verlagert sich wie die Pädagogik oder die theatralische Unterhaltung in OnlineBereiche, man reduziert, macht – auch im sonst herkömmlichen E-Musizieren – Quantitäten statt Qualitäten. Wie es langsam schon fremd wird, sich frische volle Sportstadien oder Pop-Arenen vorzustellen, so wird es auch obsolet, auf gut besuchte Bereiche für Neue Musik jeder Art, höchst artifizielles Gespinst ebenso wie Dreitongebrülle in sich immer wieder neu definierender Art zu hoffen.
Aber? Aber! Na ja, pandemiebefördert macht sich halt der nächste Schnitt im europäischen und nun weltweit exzeptionellen Erfinden für die Menschen breit. Das Musikalische, alles also, was mit Musik und deren Machen respektive Verbreitung zu tun hat, bekam als neuen Stil eine neue Weltpräsenz, und nur um die geht es, nicht etwa gar um neue Genres.
Und daher ist jeder Absatz, der bisher in diesem Essay formuliert worden ist, nur (oder meinetwegen: vor allem) ein Hinweis darauf, dass wir in einer seit Jahren sich vorbereitenden und nun wohl sich pandemisch geförderten, ausbreitenden anderen Zeit für Musik leben.
Ende Jänner/zu Beginn des Februars: Es gibt kleine Häufungszeiten. Geburtstage etwa. Nicht nur von so manchen milliardenschweren Pop-Girlies, sondern auch von Mozart, Schubert, Berg. Von den Letzteren leitet sich in (siehe oben) verprimitivter Form die Vokalmusik heute ab. Na immerhin. Die Musikwelt ist noch immer ein sehr weites Land.
Die Musikwelt besteht aktuell wie auch rekapitulierend aus stundenlangem DreiklangsSchrott in maximal drei Rhythmusvarianten.