Holl, der letzte Katholik.
Im Arbeitszimmer Adolf Holls stehen sechzig Umzugskartons: 1800 Bände der Arbeitsbibliothek, Manuskripte, Korrespondenzordner, Lebenszeugnisse. „Jetzt wird Adolfs Geist hier bald ausziehen“, seufzt der Theologe Franz Haslinger. Adolf Holl zum ersten Tode
Adolf Holl zum ersten Todestag: In seinem Arbeitszimmer stehen sechzig Umzugskartons: 1800 Bände der Arbeitsbibliothek, Manuskripte und Lebenszeugnisse. Von Walter Famler.
Am 23. Jänner vorigen Jahres verstarb in seinem neunzigsten Lebensjahr in Wien-Döbling der Priester, Ketzer, Rebell, Publizist, Theologe, Schriftsteller und Gelehrte Adolf Holl im Haus seiner Lebensgefährtin, der langjährigen „Spiegel“-Korrespondentin Inge Santner-Cyrus. Am Schreibtisch in seiner Arbeitswohnung in der Hardtgasse 34 hinterließ er das Manuskript für sein 33. Buch mit dem Titel „Leibesvisitationen“. Es umfasst dreiundsiebzig auf seiner mechanischen Schreibmaschine getippte und von ihm selbst noch korrigierte Seiten.
Begonnen mit der Niederschrift seines letzten Buches hat Holl im Dezember 2014. Bereits 2009 signalisierte er in einem Interview die Beschäftigung mit dem Thema: „Mich interessiert in letzter Zeit besonders der Umstand, dass wir im gesamten Abendland keinerlei Tradition für eine eingehende und freundliche Auseinandersetzung mit unserer Endlichkeit und Körperlichkeit haben.“In einer für seine Schreibweise typischen Manier zeugen die ersten Sätze der „Leibesvisitationen“noch einmal davon, wie Holls Denken und Schreiben sich aus Verdrängtem und gemeinhin oft als abseitig beurteiltem Wissen speist: „Dieses Buch schreibe ich als Richtigstellung vieler Dummheiten, die mir im Umgang mit meiner Leibhaftigkeit passiert sind. Dabei denke ich an einen längst verstorbenen Gesinnungsgenossen, den katholischen Priester, Arzt und Schriftsteller Francois¸ Rabelais aus dem 16. Jahrhundert, der dem Ordinären Ausdruck verlieh, das er auf Jahrmärkten und Handelsmessen in Frankreich den Schaubudenbesitzern, Scharlatanen, Quacksalbern, Taschenspielern, Seiltänzern abgelauscht hatte. Das Leibhaftige erscheint bei Rabelais als Aufzählung von schmackhaften Speisen, von Kraftausdrücken für das Manneswerkzeug in guter und schlechter Verfassung, mundartlichen Varianten für die Benennung der Verdauungstätigkeit und Harnabsonderung, Termini aus den Bereichen der Folter und öffentlichen Auspeitschung, Verzeichnissen von Waffengattungen durchwirkt mit witzigen Verweisen auf die medizinische Fachliteratur.“
Im Jänner 1971 beendete Adolf Holl das Manuskript für sein bekanntestes und wohl am nachhaltigsten wirkendes Buch: „Jesus in schlechter Gesellschaft“. Es erreichte inklusive Übersetzungen ins Englische, Französische, Italienische, Portugiesische und ohne Zuzählung von in Lateinamerika kursierenden Raubkopien bis heute eine Gesamtauflage von über 700.000 Exemplaren, löste in konservativ-katholischen Kreisen ein Erdbeben aus und katapultierte seinen Verfasser aus Priesteramt und Lehrkanzel. Wer sich die Wirkung von Holls Jesus auf die katholisch imprägnierte, mit der Amtskirche und deren Funktionären hadernden österreichischen Jugend der 1970er-Jahre vergegenwärtigen möchte, dem sei die Lektüre von Josef Haslingers Nachwort in der lieferbaren Taschenbuchausgabe empfohlen.
Jesus „immer bei den Armen“
Für den Klappentext der Erstausgabe hatte Holl sein Jesusbild in folgende Sätze gerahmt: „Jesus ist bei den Kindern, die von zu Hause fortlaufen. Bei den Gefangenen und Verurteilten. Immer bei den Armen, nie bei den Reichen. Stets bei den Unzufriedenen, die Satten meidet er. Nicht bei den Erhaltern des Bestehenden, denn die kommen ohne ihn zurecht.“Die Stoßrichtung seines Buchs fasst er im letzten Absatz zusammen, der auch die intellektuelle Grammatik für sein Gesamtwerk definiert: „Die Entscheidung darüber, ob Jesus lediglich müßige Hirngespinste in die Welt gesetzt hat oder ob seine Ideen einfach noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, kann durch keinen Beweisgang erzwungen werden. Die Analysen, Argumente und Gedanken in diesem Buch konnten also lediglich einen offenen Raum schaffen, in dem diese Entscheidung getroffen werden kann, überlegt sicherlich und – wie zu hoffen steht – in jedem Falle kühn.“
Mit den Verkaufserlösen seines Jesus-Buches konnte Holl nach dem Rauswurf aus der Kaplanswohnung die Wohnung in der Hardtgasse finanzieren. Dort begann er umgehend mit der Arbeit am nächsten Buch. Auch „Tod und Teufel“erzielte eine enorme Resonanz, wenngleich das Buch nicht an den Verkaufserfolg des vorigen heranreichte. Bis zum Verbot des Messelesens und dem Entzug der Lehrberechtigung 1976, keineswegs im Sinn des liberalen Wiener Kardinals Franz König, jedoch auf Drängen des Vatikans und konservativer österreichischer Kirchenkreise, veröffentlichte Holl weiterhin als Priester „Wo Gott wohnt“.
In einer Stellungnahme zu seiner Suspendierung vom Priesteramt formuliert er seine religionswissenschaftliche Intention: „Meine theologische Linie vom Jesusbuch bis zu ,Wo Gott wohnt‘ ist eine Auseinandersetzung mit dem Heilandsglauben. Eine Vernichtung dieses Glaubens liegt mir nicht im Sinn. Dass ich für meine theologische Entwicklungslehre des Heilandsglaubens einen fast spielerischen Stil gewählt habe, hat einen triftigen Grund. Die nachweislich reaktionäre Kirchenpolitik der letzten 200 Jahre hat eine jegliche Gottesrede so sehr kompromittiert, so sehr dem Pfäffischen angenähert, dass der Theologe am liebsten verstummen möchte. Ich selbst wollte wenigstens den Versuch machen, Gott als Heiland verständlich zu machen, so schlicht wie nur irgend möglich.“
Die Suspendierung vom Gottesdienst erlebte Holl, auch wenn sie eine lebenslängliche Leerstelle hinterließ, im Gegensatz zum
Lehrverbot durchaus befreiend. Er schrieb weiter Buch um Buch, nutzte Fernsehen und Zeitungen als mediale Kanzel und entwickelte als Moderator der legendären ORF-Diskussionssendung „Club 2“eine ständige öffentliche Präsenz. Um die Jahrtausendwende beginnt das Spätwerk, zunächst 1999 mit „Die linke Hand Gottes“, einer Biografie des heiligen Geistes, das mit „Der lachende Christus“fortgesetzt wurde. 2009 bis 2014 erscheinen drei Bücher, die sich als Holls summa theologica zusammenfassen lassen.
Mit zunehmenden Lebensjahren altersmilde beurteilt Holl den eigenen Wirkungsgrad eher skeptisch. In „Wie gründe ich eine Religion“merkt er selbstironisch an: „Über die Reichweite dessen, was mir durch den Kopf geht, sollte ich mir keine Illusionen machen. Selbst wenn ich die Chance bekomme, meine Religion zur besten Sendezeit einem Millionenpublikum verständlich zu machen, werden sich höchstens zwei Dutzend Interessierte bei mir melden, alle mit einem schweren Dachschaden. So ist es eben. Jede Religion muss klein anfangen.“
Holls letzter öffentlicher Auftritt erfolgt Ende April 2018 anlässlich der Präsentation von Harald Klauhs’ Biografie „Holl. Bilanz eines rebellischen Lebens“. Das letzte Interview wird kurz danach in einer Religionssendung von Ö1 ausgestrahlt. Die letzten zwei Lebensjahre sind von der Krankheit des Vergessens, wie er seine fortschreitende Demenz in helleren Phasen selbst bezeichnete, geprägt. Korrespondenzen lässt er nur mehr in wichtigen Ausnahmefällen erledigen, selbst zum Telefon greift er zuletzt im Winter 2019, um auf ein Schreiben des Benediktinerpaters Michael Köck zu reagieren.
Darin prognostizierte ihm der Salzburger Hochschultheologe, dass die Zeit für seine Bücher erst kommen werde. In einem Kondolenzschreiben wird er ein Jahr später Holl als „letzten Katholiken“bezeichnen: „Einer, der bis zuletzt einer war – zeitlich und im übertragenem Sinne, und auch bis zur letzten Konsequenz. Einer, der das Ganze in einem unendlichen dialektischen Prozess anvisierte, ohne es je zu erreichen. Einer, der Padre Pio etwas Positives abgewinnen konnte und zugleich den Wahnsinn desselben benannte und durchschaute. Einer, der in den Keller des Heiligtums abzusteigen wagte und zugleich dem Obergeschoß, dem Palais des Kardinals, die Daseinsberechtigung nicht gänzlich absprach.“
Wo ist eigentlich der Totenschädel?
Zweiter November 2020, Allerseelen. Um zwölf Uhr wird der Übernahmevertrag für Adolf Holls literarischen und wissenschaftlichen Nachlass in der Wienbibliothek im Rathaus unterzeichnet. Es ist der Tag vor dem zweiten Lockdown, acht Stunden später sterben vier Menschen in Wien, hingerichtet von einem amoklaufenden IS-Anhänger. Wie hätte Holl wohl die Ereignisse kommentiert?
Am Freitag danach sitze ich mit dem Priester und Theologen Franz Haslinger bei einer Tasse Tee in Holls Arbeitszimmer. Im Zimmer stehen sechzig Umzugskartons: 1800 Bände der Arbeitsbibliothek, Manuskripte, Korrespondenzordner, Lebenszeugnisse. Obenauf die Totenmaske und Holls Schreibmaschine, alles zum Abholen bereit. Die Tischuhr schlägt halb drei. „Jetzt wird Adolfs Geist hier bald ausziehen“, seufzt Haslinger. Nach einer Andachtsminute fragt er in die Stille des Zimmers: „Und wo ist jetzt eigentlich der Totenschädel?“
Ja, der Totenschädel. In „Mystik für Anfänger“schreibt Holl über seine Jahre im Priesterseminar: „Zum Zeichen unserer Weltverachtung verschafften wir uns Totenschädel aus einem niederösterreichischen Gebeinhaus als Zimmerschmuck und studierten die Lebensgeschichte des Heiligen Bruno. Regens und Spiritual hatten gegen die Totenschädel nichts einzuwenden. In meinen Totenschädel legte ich einen Zettel, auf welchen ich den folgenden Satz geschrieben hatte: Das Eigentliche kommt doch erst.“Lange stand der Totenschädel auf einem Bücherregal. Den Zettel hatte er längst weggeworfen. Anfang der Nullerjahre wollte Holl den Schädel loswerden und bat Haslinger, ihn auf den Friedhof seiner Pfarre zu bringen. Dann entschied er sich jedoch, ihn mir weiterzureichen, mit einem neuen Zettel, auf dem er mit roter Tinte notierte: „Über Bruno von Köln zu Ernst Bloch und den lachenden Christus. Wir wollen unsern Tod nicht in unser Leben eindringen lassen.“
Bei einem meiner letzten Besuche an seinem Krankenbett lag Holl ruhig atmend im Halbschlaf. Plötzlich schlug er die Augen auf, hob den linken Zeigefinger und flüsterte in seinem unverwechselbaren Wiener Idiom: „Wiast segn, du kummst a nu drau!“Sprach es, schloss die Augen und schlief ein.