Franzobels Amerika-Utopie.
Ein Programm für die Dekaden nach Trump? Franzobels „Die Eroberung Amerikas“ist ein politischer Roman. Geht es doch um nichts weniger, als das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten an die Ureinwohner zurückzugeben. Eine schöne, aber nicht ganz ernste Uto
„Die Eroberung Amerikas“von Franzobel: Es geht um nichts weniger, als das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten an die Ureinwohner zurückzugeben. Gelesen von Thomas Rothschild.
Vierzehn Bücher, seine Dissertation eingeschlossen, hat Robert Musil zu Lebzeiten veröffentlicht. Von Michael Köhlmeier gibt es mehr als vier Dutzend Bücher, von Franzobel rund sechs Dutzend und noch einmal rund zwei Dutzend mehr, wenn man die Theatertexte mitzählt. Dabei ist der Mann noch keine 54 Jahre alt. Sage einer, es gebe keinen Fortschritt!
Diesmal entführt der so verblüffend produktive Franzobel, der Grenzen, in welcher Form auch immer, nicht zu kennen scheint, auf Umwegen nach Amerika. Und weil bei ihm alles durcheinanderwirbelt, stoßen scheinbar unvereinbare Orte, Zeiten, Handlungselemente unmittelbar aufeinander. Das weist in die Richtung der Fantasy und des Traums, zuweilen auch, zugegeben, der Blödelei aus dem Mittelschüler-Milieu. Dass Franzobel diese Poetik jedoch mit Faktischem verknüpft, dass er, wenngleich dem Surrealismus durchaus nahe, von Realem berichtet, macht den besonderen Reiz seines jüngsten Romans aus. „Die Eroberung Amerikas“ist, bei aller grotesken Farbigkeit, ein politischer Roman, der besser nicht in unsere Gegenwart einer eben zu Ende gegangenen, aber von der Hälfte der USAmerikaner geduldeten Präsidentschaft eines Verrückten passen könnte.
Den Titel hat Tzvetan Todorov bereits vor 39 Jahren für ein Buch verwendet. Während der bulgaro-französische Universalgelehrte stellte ihn jedoch einem theoretischen Essay vor, Franzobel nützt ihn für einen Roman, der zwar, wie der Untertitel ankündigt, auf „wahren Begebenheiten“beruht, sich aber die Freiheiten eines Romans im strengen Sinne nimmt. Wenn man allerdings die vielen Auslandsaufenthalte und Informationsquellen berücksichtigt, die Franzobel in seiner Danksagung erwähnt, bleibt für Erfindung gar nicht so schrecklich viel Platz. Aber wer weiß, wie das bei einem Autor ist, der es schafft, neben Reisen durch halb Europa, Nordafrika und Amerika im Schnitt zwei Bücher im Jahr zu schreiben. Dabei haben wir es, wie er im Nachwort verrät, seinem Verleger zu verdanken, dass der Roman nicht doppelt so dick wurde.
Der Autor mit dem kontaminierten Pseudonym hat keine Scheu vor ausgelutschten Kalauern. Gleich der erste Satz des Romans lautet: „Gestern war heute noch morgen, und übermorgen wird morgen gestern sein.“Gelegentlich ist Franzobel nicht weit entfernt von dem Scherzlied „Ein Mann, der sich Kolumbus nannt“, in dem es heißt: „Das Volk am Land stand stumm und zag, / Da sagt Kolumbus: Guten Tag! / Ist hier vielleicht Amerika? / Da schrien alle Wilden: Ja!“
Auch bei Franzobel kommen sie vor, die „Wilden“– aus der Perspektive der Eroberer, versteht sich. Hier aber geht es nicht um Kolumbus, sondern um Hernando de Soto, der bei Franzobel zu Ferdinand Desoto eingedeutscht wurde und, neben Hernan´ Cortes´ und Francisco Pizarro, zu den ersten Konquistadoren gehörte. Franzobel bedient sich einer Sprache und einer Erzählweise, als fänden die Ereignisse, von denen er spricht, nicht vor einem halben Jahrtausend, sondern in unserer Gegenwart statt. Er umgibt seinen „Helden“mit zahlreichen Figuren, die er konzise und oft auch karikiert skizziert. Er springt in Vorschauen und Rückwendungen in der Geschichte umher, spart nicht mit Analogien und Vergleichen und amüsiert mit Anachronismen.
So fügt er die berühmten Sätze Shylocks aus dem „Kaufmann von Venedig“ein, dessen Autor zur Zeit der Handlung noch gar nicht geboren war, einen Vers aus den im KZ Börgermoor entstandenen „Moorsoldaten“oder die Geschichte des Rechtsanwalts Trutz Finkelstein, dessen Stimme – in New York, wohlgemerkt – klang wie die Synchronstimme von Woody Allen. Ein Advokat darf wie Ben Kingsley, aber auch wie eine „geschälte Schildkröte“aussehen, und die Spanier spielen mit den „Wilden“Football, mit einem Huhn als Spielball.
Auch die Zwischentitel sind zum Teil Zitate („Die Mühen der Ebene“), Parodien („Bruderzwist im Hause Inka“), Kalauer („Ahnenkampf“). Die vielen Dialoge, die vorübergehend mehrere Seiten füllen, geben Gelegenheit zu sprachlicher Mimikry: „Himmelherrgottsakrament, eine offene Insubordination, na wartet.“Oder: „Wenn die Indianer überleben wollen, müssen sie sich anpassen. Sonst werden sie vernichtet. Wir sind dazu bestimmt, die Welt zu erlösen durch unsere Lebensart.“Dass sich Franzobel keinen Sprachregulierungen unterwirft und dass er Vulgarismen als eine stilistische Möglichkeit begreift, wird nicht weiter verwundern. Bei allem Unterhaltungswert lässt Franzobel jedoch keinen Zweifel an der Tatsache, dass die Eroberung Amerikas ein mörderisches Unternehmen war, ein Verbrechen, dessen Schuld nicht abgegolten ist.
Er teilt das ohne Pathos mit, eher angedeutet als elaboriert. Erst auf den letzten drei Seiten wird er explizit. Er kehrt in die Gegenwart und zu Trutz Finkelstein zurück. Der oberste Richter des State Supreme Court der USA verkündet, dass die Häuptlinge seinerzeit nicht das Recht gehabt hätten, das Land ihrer Stammesgenossen zu veräußern.
Das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten mit seinen beweglichen und unbeweglichen Besitztümern sei somit an die Indianer zurückzuerstatten. Andernfalls hätten die Vereinigten Staaten von Amerika in den nächsten vier Dekaden „den aktuell bei 650 Milliarden Dollar liegenden Etat der Militärausgaben ausschließlich für Umwelt- und Sozialprogramme zu verwenden, um das seit fünfhundert Jahren kaputtgemachte Land wieder in Ordnung zu bringen“.
Zwar gingen bei dieser Alternative die Ureinwohner – und die bis heute diskriminierten Nachfahren der nie entschädigten Sklaven, der Opfer von Ku-Klux-Klan und Lynchmob – leer aus, aber immerhin: eine schöne Utopie. Leider nur aus der Fantasie von Franzobel. Auf der Agenda des neuen Präsidenten und der Abgeordneten im Senat und im Repräsentantenhaus dürfte sie nicht stehen. Die Sängerin Buffy Sainte-Marie vom Stamm der Cree fragt in ihrem Song „My Country ’Tis Of Thy People You’re Dying“mit Bezug auf die Kinder ihres Volkes: „Ihr verbietet ihnen ihre Sprachen, sagt dann ferner, dass die amerikanische Geschichte eigentlich begann, als Kolumbus von Europa aus Segel setzte, betont dann, dass die Nation der Blutsauger, die dieses Land erobert hat, die größte und mutigste und kühnste und beste sei. Und doch: Wo in euren Geschichtsbüchern steht die Erzählung von der Genozid-Grundlage für die Geburt dieses Landes?“Auf diese Frage gibt auch der Roman keine Antwort. Aber er ist ein Versuch einer Annäherung. Aus dem Blickwinkel eines Österreichers. Das ist mehr als nichts.
Das Volk am Land stand stumm und zag. Da sagt Kolumbus: Guten Tag!
Ist hier vielleicht Amerika? Da schrien alle Wilden: Ja!
Franzobel
Die Eroberung Amerikas Roman nach wahren Begebenheiten.
544 S., geb., € 26,80 (Zsolnay Verlag, Wien)