Geboren 1957 in Wien. Professorin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien. Bücher: u. a. „Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive“, erschienen im Promedia Verlag.
Reisefreiheit in Europa war gestern. Nach Quarantäne und PCR-Test verlangt Österreich nun auch, Route, Zieladresse und Aufenthaltsdauer vorab online bekannt zu geben. Und andernorts fordert man noch mehr. Pre-Travel-Clearance: über neue und alte Grenzregime.
Seit Kurzem gilt in Österreich ein neues Grenzregime: Die Einreise ist, für Staatsbürger ebenso wie für Fremde, nur mit einem sogenannten PTC-Formular (Pre-TravelClearance) möglich, das Reiseroute, Zieladresse, Aufenthaltsdauer und Kontaktdaten enthält. Es soll das lückenlose Contact Tracing erleichtern, das zu den Eckpfeilern der Bemühungen um die Eindämmung des Coronavirus zählt. Der Online-Registrierung kann ein PCR-Test angehängt werden. Dieser enthebt die Reisenden jedoch nicht von der zehntägigen Quarantäne, aus der sie sich nach fünf Tagen „freitesten“können. Ähnliche Registrierungspflichten existieren für zahlreiche Staaten.
Mit diesem Schritt wurde nicht nur die Freizügigkeit der Bewegung innerhalb der Europäischen Union Geschichte, sondern auch das passlose Reisen. Stattdessen beobachten wir eine Multiplizierung des Reisepasses. Er wird in mehrfacher Ausfertigung verlangt: zum Nachweis der persönlichen Identität treten der Nachweis der Reiseroute sowie der Gesundheitspass.
Wir nehmen diese neue Reiseüberwachung zum Anlass, die Geschichte des Passes in Erinnerung zu rufen. Der Pass entwickelte sich aus Dokumenten, die einem Reisenden auf den Weg mitgegeben wurden, um ihm Schutz und Aufnahmeempfehlung zu gewähren. Also PassWorte, die Türen öffnen sollten. Allgemeine Regelungen für Mobilität und Kontrolle entwickelten sich erst mit der Herausbildung eines staatlichen Passsystems im 18. Jahrhundert. Im Zuge ihrer territorialen Konsolidierung zogen die Staaten die Passerteilung an sich. Jede Reise, die die engere Heimat überschritt, bedurfte einer behördlichen Genehmigung. Der Reisepass hatte die Aufgabe, die Person zu beschreiben, Ziel und Zweck der Reise festzuhalten. Je nach Status der Person und Reichweite waren unterschiedliche Instanzen damit befasst. Die Akten der Kreisämter, die in der Habsburgermonarchie um 1750 als staatliche Behörde installiert wurden, zeugen mit den Passanträgen, Passlisten sowie mit den zahlreichen Rekursen gegen verweigerte Passerteilung von den bürokratischen Mühen, die mit dem Reisen verbunden waren. Sie zeigen aber auch, wie die bedingungslose Bindung der Untertanen an die grundherrschaftliche Scholle durch ein staatliches Passsystem außer Kraft gesetzt wurde.
Zur selben Zeit wurden die Binnenzölle zugunsten eines einheitlichen Binnenmarkts abgebaut, bis 1775 die habsburgischen Kernländer in einer Zollunion vereinigt waren. Die Passkontrolle in diesem Binnenraum erfolgte nicht an Grenzen, son
dern anlassbezogen: Fuhrwerks-, später Bahnunternehmen waren ebenso dazu angehalten wie Wirte und Herbergsgeber; in den Städten waren Reisende verpflichtet, ihre Pässe polizeilich vidieren zu lassen, nach der Rückkehr erlosch die Gültigkeit. Einzig an den Grenzen großer Städte, den sogenannten Linien, gab es allgemeine Einreisekontrollen für den Personen- und Warenverkehr: Hier wurde nicht nur der Einfuhrzoll auf mitgeführte Waren erhoben, sondern auch der Reisepass einbehalten und gegen einen Passierschein getauscht, der zum Aufenthalt in der Stadt berechtigte.
Im ländlichen Raum konnten sich viele der Passpflicht entziehen und auf den Straßen und in abgelegenen Gegenden ihr Leben fristen. Manche Menschen mit Behinderung konnten von ihrer Herrschaft sogar einen Bettelpass ergattern, der sie zum Almosensammeln oder zum Leierkastenspiel ermächtigte. So entledigten sich Herrschaftsinhaber ihrer sozialen Verantwortung, sehr zur Missbilligung der staatlichen Behörden, die zwar die Mobilität der Untertanen ermögli
chen wollten, nicht zuletzt als Arbeitskräfte, das Umherziehen sozial Bedürftiger jedoch hintanhalten wollten.
Nach den Napoleonischen Kriegen und im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung nahm die Zahl der Arbeitsmigranten, die andernorts Bau-, Dienst-, Gelegen
Der Pass entwickelte sich aus Dokumenten, die dem Reisenden in der Fremde Schutz und Aufnahmeempfehlung gewähren sollten.
heits- und Saisonarbeiten annahmen, stark zu. Das staatliche Passsystem wurde verstärkt, anderen bisher verwendeten Dokumenten wie Kundschaften der Handwerker, Dienstbotenbüchern, zur Reise vidierten Heimatscheinen oder den besagten Bettelpässen die Anerkennung verweigert. Als mit der Eisenbahn seit den 1840er-Jahren die Mobilität zunahm, ging man dazu über, Jahrespässe für bestimmte Bahnstrecken auszustellen. Schließlich erwies sich der Reisepass zur Kontrolle der Binnenreisen als nicht mehr praktikabel, und man adaptierte das Heimatrecht als ein Instrument zur Kontrolle der Binnenmigration.
In den 1850er-Jahren wurde der Binnenpass abgeschafft. Ein Reisepass war in Hinkunft nur mehr für Auslandsreisen erforderlich und wurde an der Staatsgrenze über
prüft. Je nach bilateralen Beziehungen und Grund der Reise waren Visa erforderlich. In großen Flächenstaaten wie Frankreich oder der Habsburgermonarchie eröffnete dies einen weiten passlosen Reiseraum; die zersplitterten Staaten des Deutschen Bundes schlossen 1850 einen Passkartenvertrag, dem sich Österreich-Ungarn anschloss. Der gegenseitigen Akzeptanz von Reisepässen folgte bald die generelle Aufhebung der Passpflicht auf dem Gebiet der europäischen Passunion, der ab 1871 neben dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederlande und Italien angehörten. Stefan Zweig brachte seine persönlichen Erinnerungen an diese Zeit kurz vor seinem Freitod im brasilianischen Exil in „Die Welt von gestern“(1942) zu Papier: „Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte . . . Ich ergötzte mich immer wieder neu an dem Erstaunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzählte, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen oder über
haupt je gesehen zu haben. . . . Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigungen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamten, Polizei, Gendarmerieposten dank des pathologischen Misstrauens aller gegen alle in einen Drahtverhau verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolische Linien,
die man ebenso sorglos überschritt wie den Meridian in Greenwich.“
Seither beobachten wir ein Kommen und Gehen von Passunionen. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs zerfiel die westeuropäische Passunion und machte der nationalstaatlichen Handhabung von Reise-, Migrations- und Passregimen Platz, die bis 1990 Bestand hatte. Erst mit dem Schengener Durchführungsabkommen von 1990, das im Vertrag von Amsterdam in den EURechtsrahmen eingegliedert wurde, entstand ein gemeinsamer Reiseraum, in dem Passkontrollen im Inneren zugunsten einer gemeinsamen Kontrolle der Außengrenzen ausgesetzt wurden. Mit dem Zusammenbruch des realen Sozialismus umfasste dieser nun auch einige Staaten des ehemaligen RGW (Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe), wo bis 1989/91 ein eigenes Grenzregime mit besonderen Reiserestriktionen herrschte. Damit trat eine zweite Phase einer europäischen Passunion in Kraft.
Erste Risse erhielt diese, als unter der Flüchtlingswelle 2015/16 die nationalstaatlichen Grenzen reaktiviert wurden; den Todesstoß versetzten ihr die Maßnahmen gegen das Coronavirus. Das Schengen-Regime hatte die Personenkontrolle mit dem elektronischen Schengener Informationssystem und der Perfektionierung der Abschottungs- und Verteidigungsmaßnahmen an den Außengrenzen auf ein neues technologisches Niveau gebracht. – Seuchen hatten in der Geschichte immer wieder zu rigiden Maßnahmen von Einsperrung und Isolierung der Kranken, Schutz- und Hygienevorschriften geführt. Schon in der Bibel lesen wir von der Isolierung von Leprakranken. Gegen die Pest entwickelte man Schutzkleidung mit langen „Schnäbeln“zum Atmen, um die tödliche Übertragung zu vermeiden. Um die Erreger vom Eindringen in das eigene Land, die eigene Stadt abzuhalten, griff man zum Mauerbau oder zur Schließung von Grenzen. Mit der Mur de la Peste, bis zum Lockdown ein beliebtes Ausflugsziel bei Marseille, versuchte die päpstliche Enklave Venaissin anlässlich einer der letzten Pestepidemien in Europa, die Ausbreitung vom Hafen Marseille auf ihr Gebiet zu verhindern.
Die Internierung von Reisenden in Quarantänestationen wurde in die Routine der Grenzkontrolle übernommen. Die sogenannte Kontumaz – die in der Regel 40-tägige Quarantäne, in der der Krankheitserreger absterben sollte – erreichte ihre Perfektionierung an den Grenzen zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie. Hier gab es begründeten Verdacht, dass die aus dem Orient Einreisenden Überträger von Pest und Cholera sein könnten; ebenso ihre Waren, insbesondere Textilien, in deren Falten sich die Erreger leicht einnisten konnten. Der habsburgische Grenzraum bildete seit dem 16. Jahrhundert als Militärgrenze (Vojna Krajina, Confin) eine eigene administrative Einheit unter dem Kommando des Hofkriegsrates, die der militärischen Abwehr, aber auch der Überwachung des Grenzverkehrs diente. Nachdem im Frieden von Belgrad (1739) der Grenzverlauf an der Save festgelegt wurde, entstand auf österreichischer Seite in Semlin/Zemun die große Kontumaz. Sie enthielt – in Überresten bis heute sichtbar – Desinfektionsgebäude, Stallungen, Lagerräume, Herbergen und Gotteshäuser für die Reisenden der verschiedenen Konfessionen, die dort unter Bewachung die 40 Tage bis zur Weiterreise abwarteten.
Während die Pest als besiegt galt, stand das 19. Jahrhundert im Zeichen der Angst vor der Cholera. Auch Reisende aus Russland unterlagen der besonderen Seuchenprävention. Die kurzfristig von Deutschland auch gegenüber russischen Reisenden ausgesetzte Passkontrolle wurde 1879 mit dem Argument der Seuchengefahr wieder eingeführt. Dies traf besonders die Auswandernden mit 3.-Klasse-Billetts, die über deutsche Häfen in die Neue Welt auswanderten. Es waren die Hapag und der Deutsche Lloyd, die im Auftrag der Einwanderungsstaaten die Gesundheitskontrolle der ärmeren Auswandernden übernahmen; dass Reisenden mit 1.- und 2.-Klasse-Tickets diese Prozedur erspart blieb, zeigt den Klassencharakter der Kontrolle. Als aufgrund des Ausbruchs der Cholera 1892 in Hamburg Panik ausbrach, errichteten die Schifffahrtslinien an der deutsch-russischen Grenze fünf Grenzkontrollstationen zwecks Gesundheitscheck. Eine solche Registrierstation bestand aus einem roten und einem weißen Teil: nur wer für unbedenklich erklärt wurde, rückte von Rot nach Weiß vor und durfte weiterreisen. In Hamburg wurden auf einer Insel vor dem Hafengebiet Auswandererbaracken errichtet, wo erneut alle Passagiere einem Gesundheitscheck unterzogen wurden, bevor die gleiche Prozedur nach der Ankunft in den USA, etwa auf Ellis Island vor New York, wiederholt wurde.
Die Seuchenkontrolle diente der Absonderung von Krankheitsüberträgern. Gleichzeitig bot sie die Möglichkeit, die Auswanderung in ein lukratives Geschäftsmodell zu verwandeln. Die Grenz- und Hafenstädte spezialisierten sich nicht nur auf das Migrationsmanagement, sondern auch auf die Unterbringung sowie die Ausstattung mit allen nur erdenklichen Reiseutensilien und Informationen. Im Gegenzug für die Übernahme staatlicher Kontrollaufgaben hielten die beiden deutschen Schifffahrtslinien das Monopol für den Auswanderertransport aus Russland. Seuchenkontrolle konnte auch als Vorwand dienen, um politisch unerwünschte Emigrationswillige am Transit, der Überfahrt oder der Einwanderung zu hindern.
Nach dem Todeszoll der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 in der von Krieg und Hunger geschwächten Bevölkerung wütete, wurden die gefürchteten Krankheiten durch Verbesserungen bei Hygiene, Prävention und medizinischer Behandlung im Laufe des 20. Jahrhunderts in Europa so gut wie besiegt. Die Zunahme von Fernreisen bei europäischen Bildungsbürgern führte zwar den Impfpass als Reisebegleiter ein, allerdings auf rein freiwilliger Basis, weil sich die Reisenden nicht der Ansteckungsgefahr jener Krankheiten aussetzen wollten, die in den südlichen Destinationen existierten. Die Verschuldung vieler Entwicklungsländer, der Zusammenbruch der staatlichen Gesundheitsvorsorge in der ehemaligen realsozialistischen Welt und die Zunahme von Flucht und Migration boten einen Nährboden für Krankheiten, die längst als gebannt galten. Gleichzeitig rückt über Waldrodung, Verbauung, industrielle Landwirtschaft und Viehzucht die menschliche Zivilisation den Rückzugsgebieten von Wildtieren gefährlich nahe. Das Überspringen von unbekannten Viren auf ungeschützte tierische und menschliche Wirte birgt ganz neue Gefahren. Im Unterschied zu lebensgefährlichen Krankheitserregern im globalen Süden, wie Ebola, HIV oder die vermehrt auftretende Malaria, ist Sars-Cov2 kein Virus mit hoher Mortalität.
Wenn wir uns ab heute zusätzlich zum Identitätsausweis nur mit Registrierungsformular, Quarantäne und Testergebnis auf Reisen begeben können, ist das ein Bruch mit selbstverständlich gewordenen Freiheiten. Die Einreisebestimmungen, die an den Staatsgrenzen überprüft werden, sind Ausdruck der Renationalisierung nach einer Phase ausufernder Globalisierung der Güterketten. Wirtschaftspolitisch sind sie von Protektionismen der Staaten und Regionalblöcke flankiert, die ihre Privilegien gegenüber globalen Konkurrenten sichern bzw. ausbauen wollen. Die Staatsmacht, die mit der Global Governance der multinationalen Konzerne an Bedeutung verloren hatte, gewinnt mit der Pandemie wieder an Einfluss. Im Dienst oder unter dem Vorwand von Gesundheitsschutz verlangt sie Auskunft über den Gesundheitsstatus nicht nur im internationalen Reiseverkehr, sondern auch als Voraussetzung für Bewegungsfreiheit innerhalb der Staatsgrenzen. Wir kehren damit in das Zeitalter des Binnenpasses zurück: Je nach Status wird einzelnen Personen der Zutritt zu bestimmten Räumen und die Teilnahme an Veranstaltungen gestattet. Die digitale Erfassung bietet ganz andere Möglichkeiten der Überwachung und der Nachverfolgung. Und mit dem „Freitesten“oder Impfen kann in jedem Betrieb, jeder Schule oder jedem Veranstaltungsort eine Kontumaz errichtet werden. Die territoriale Souveränität der Staaten, die durch die grenzüberschreitende Mobilität von Kapital-, Waren- und Personenverkehr durchlöchert wurde, nimmt wieder Gestalt an.
Die Staatsmacht gewinnt wieder an Einfluss. Sie verlangt Auskunft über den Gesundheitsstatus als Voraussetzung für Bewegungsfreiheit.