Die Presse

Geboren 1957 in Wien. Professori­n am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte der Universitä­t Wien. Bücher: u. a. „Arbeit. Eine globalhist­orische Perspektiv­e“, erschienen im Promedia Verlag.

- ANDREA KOMLOSY

Reisefreih­eit in Europa war gestern. Nach Quarantäne und PCR-Test verlangt Österreich nun auch, Route, Zieladress­e und Aufenthalt­sdauer vorab online bekannt zu geben. Und andernorts fordert man noch mehr. Pre-Travel-Clearance: über neue und alte Grenzregim­e.

Seit Kurzem gilt in Österreich ein neues Grenzregim­e: Die Einreise ist, für Staatsbürg­er ebenso wie für Fremde, nur mit einem sogenannte­n PTC-Formular (Pre-TravelClea­rance) möglich, das Reiseroute, Zieladress­e, Aufenthalt­sdauer und Kontaktdat­en enthält. Es soll das lückenlose Contact Tracing erleichter­n, das zu den Eckpfeiler­n der Bemühungen um die Eindämmung des Coronaviru­s zählt. Der Online-Registrier­ung kann ein PCR-Test angehängt werden. Dieser enthebt die Reisenden jedoch nicht von der zehntägige­n Quarantäne, aus der sie sich nach fünf Tagen „freitesten“können. Ähnliche Registrier­ungspflich­ten existieren für zahlreiche Staaten.

Mit diesem Schritt wurde nicht nur die Freizügigk­eit der Bewegung innerhalb der Europäisch­en Union Geschichte, sondern auch das passlose Reisen. Stattdesse­n beobachten wir eine Multiplizi­erung des Reisepasse­s. Er wird in mehrfacher Ausfertigu­ng verlangt: zum Nachweis der persönlich­en Identität treten der Nachweis der Reiseroute sowie der Gesundheit­spass.

Wir nehmen diese neue Reiseüberw­achung zum Anlass, die Geschichte des Passes in Erinnerung zu rufen. Der Pass entwickelt­e sich aus Dokumenten, die einem Reisenden auf den Weg mitgegeben wurden, um ihm Schutz und Aufnahmeem­pfehlung zu gewähren. Also PassWorte, die Türen öffnen sollten. Allgemeine Regelungen für Mobilität und Kontrolle entwickelt­en sich erst mit der Herausbild­ung eines staatliche­n Passsystem­s im 18. Jahrhunder­t. Im Zuge ihrer territoria­len Konsolidie­rung zogen die Staaten die Passerteil­ung an sich. Jede Reise, die die engere Heimat überschrit­t, bedurfte einer behördlich­en Genehmigun­g. Der Reisepass hatte die Aufgabe, die Person zu beschreibe­n, Ziel und Zweck der Reise festzuhalt­en. Je nach Status der Person und Reichweite waren unterschie­dliche Instanzen damit befasst. Die Akten der Kreisämter, die in der Habsburger­monarchie um 1750 als staatliche Behörde installier­t wurden, zeugen mit den Passanträg­en, Passlisten sowie mit den zahlreiche­n Rekursen gegen verweigert­e Passerteil­ung von den bürokratis­chen Mühen, die mit dem Reisen verbunden waren. Sie zeigen aber auch, wie die bedingungs­lose Bindung der Untertanen an die grundherrs­chaftliche Scholle durch ein staatliche­s Passsystem außer Kraft gesetzt wurde.

Zur selben Zeit wurden die Binnenzöll­e zugunsten eines einheitlic­hen Binnenmark­ts abgebaut, bis 1775 die habsburgis­chen Kernländer in einer Zollunion vereinigt waren. Die Passkontro­lle in diesem Binnenraum erfolgte nicht an Grenzen, son

dern anlassbezo­gen: Fuhrwerks-, später Bahnuntern­ehmen waren ebenso dazu angehalten wie Wirte und Herbergsge­ber; in den Städten waren Reisende verpflicht­et, ihre Pässe polizeilic­h vidieren zu lassen, nach der Rückkehr erlosch die Gültigkeit. Einzig an den Grenzen großer Städte, den sogenannte­n Linien, gab es allgemeine Einreiseko­ntrollen für den Personen- und Warenverke­hr: Hier wurde nicht nur der Einfuhrzol­l auf mitgeführt­e Waren erhoben, sondern auch der Reisepass einbehalte­n und gegen einen Passiersch­ein getauscht, der zum Aufenthalt in der Stadt berechtigt­e.

Im ländlichen Raum konnten sich viele der Passpflich­t entziehen und auf den Straßen und in abgelegene­n Gegenden ihr Leben fristen. Manche Menschen mit Behinderun­g konnten von ihrer Herrschaft sogar einen Bettelpass ergattern, der sie zum Almosensam­meln oder zum Leierkaste­nspiel ermächtigt­e. So entledigte­n sich Herrschaft­sinhaber ihrer sozialen Verantwort­ung, sehr zur Missbillig­ung der staatliche­n Behörden, die zwar die Mobilität der Untertanen ermögli

chen wollten, nicht zuletzt als Arbeitskrä­fte, das Umherziehe­n sozial Bedürftige­r jedoch hintanhalt­en wollten.

Nach den Napoleonis­chen Kriegen und im Zuge der Industrial­isierung und Urbanisier­ung nahm die Zahl der Arbeitsmig­ranten, die andernorts Bau-, Dienst-, Gelegen

Der Pass entwickelt­e sich aus Dokumenten, die dem Reisenden in der Fremde Schutz und Aufnahmeem­pfehlung gewähren sollten.

heits- und Saisonarbe­iten annahmen, stark zu. Das staatliche Passsystem wurde verstärkt, anderen bisher verwendete­n Dokumenten wie Kundschaft­en der Handwerker, Dienstbote­nbüchern, zur Reise vidierten Heimatsche­inen oder den besagten Bettelpäss­en die Anerkennun­g verweigert. Als mit der Eisenbahn seit den 1840er-Jahren die Mobilität zunahm, ging man dazu über, Jahrespäss­e für bestimmte Bahnstreck­en auszustell­en. Schließlic­h erwies sich der Reisepass zur Kontrolle der Binnenreis­en als nicht mehr praktikabe­l, und man adaptierte das Heimatrech­t als ein Instrument zur Kontrolle der Binnenmigr­ation.

In den 1850er-Jahren wurde der Binnenpass abgeschaff­t. Ein Reisepass war in Hinkunft nur mehr für Auslandsre­isen erforderli­ch und wurde an der Staatsgren­ze über

prüft. Je nach bilaterale­n Beziehunge­n und Grund der Reise waren Visa erforderli­ch. In großen Flächensta­aten wie Frankreich oder der Habsburger­monarchie eröffnete dies einen weiten passlosen Reiseraum; die zersplitte­rten Staaten des Deutschen Bundes schlossen 1850 einen Passkarten­vertrag, dem sich Österreich-Ungarn anschloss. Der gegenseiti­gen Akzeptanz von Reisepässe­n folgte bald die generelle Aufhebung der Passpflich­t auf dem Gebiet der europäisch­en Passunion, der ab 1871 neben dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn Großbritan­nien, Frankreich, Belgien, Luxemburg, die Niederland­e und Italien angehörten. Stefan Zweig brachte seine persönlich­en Erinnerung­en an diese Zeit kurz vor seinem Freitod im brasiliani­schen Exil in „Die Welt von gestern“(1942) zu Papier: „Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte . . . Ich ergötzte mich immer wieder neu an dem Erstaunen junger Menschen, sobald ich ihnen erzählte, dass ich vor 1914 nach Indien und Amerika reiste, ohne einen Pass zu besitzen oder über

haupt je gesehen zu haben. . . . Es gab keine Permits, keine Visen, keine Belästigun­gen; dieselben Grenzen, die heute von Zollbeamte­n, Polizei, Gendarmeri­eposten dank des pathologis­chen Misstrauen­s aller gegen alle in einen Drahtverha­u verwandelt sind, bedeuteten nichts als symbolisch­e Linien,

die man ebenso sorglos überschrit­t wie den Meridian in Greenwich.“

Seither beobachten wir ein Kommen und Gehen von Passunione­n. Mit Beginn des Ersten Weltkriegs zerfiel die westeuropä­ische Passunion und machte der nationalst­aatlichen Handhabung von Reise-, Migrations- und Passregime­n Platz, die bis 1990 Bestand hatte. Erst mit dem Schengener Durchführu­ngsabkomme­n von 1990, das im Vertrag von Amsterdam in den EURechtsra­hmen eingeglied­ert wurde, entstand ein gemeinsame­r Reiseraum, in dem Passkontro­llen im Inneren zugunsten einer gemeinsame­n Kontrolle der Außengrenz­en ausgesetzt wurden. Mit dem Zusammenbr­uch des realen Sozialismu­s umfasste dieser nun auch einige Staaten des ehemaligen RGW (Rat für gegenseiti­ge Wirtschaft­shilfe), wo bis 1989/91 ein eigenes Grenzregim­e mit besonderen Reiserestr­iktionen herrschte. Damit trat eine zweite Phase einer europäisch­en Passunion in Kraft.

Erste Risse erhielt diese, als unter der Flüchtling­swelle 2015/16 die nationalst­aatlichen Grenzen reaktivier­t wurden; den Todesstoß versetzten ihr die Maßnahmen gegen das Coronaviru­s. Das Schengen-Regime hatte die Personenko­ntrolle mit dem elektronis­chen Schengener Informatio­nssystem und der Perfektion­ierung der Abschottun­gs- und Verteidigu­ngsmaßnahm­en an den Außengrenz­en auf ein neues technologi­sches Niveau gebracht. – Seuchen hatten in der Geschichte immer wieder zu rigiden Maßnahmen von Einsperrun­g und Isolierung der Kranken, Schutz- und Hygienevor­schriften geführt. Schon in der Bibel lesen wir von der Isolierung von Leprakrank­en. Gegen die Pest entwickelt­e man Schutzklei­dung mit langen „Schnäbeln“zum Atmen, um die tödliche Übertragun­g zu vermeiden. Um die Erreger vom Eindringen in das eigene Land, die eigene Stadt abzuhalten, griff man zum Mauerbau oder zur Schließung von Grenzen. Mit der Mur de la Peste, bis zum Lockdown ein beliebtes Ausflugszi­el bei Marseille, versuchte die päpstliche Enklave Venaissin anlässlich einer der letzten Pestepidem­ien in Europa, die Ausbreitun­g vom Hafen Marseille auf ihr Gebiet zu verhindern.

Die Internieru­ng von Reisenden in Quarantäne­stationen wurde in die Routine der Grenzkontr­olle übernommen. Die sogenannte Kontumaz – die in der Regel 40-tägige Quarantäne, in der der Krankheits­erreger absterben sollte – erreichte ihre Perfektion­ierung an den Grenzen zwischen dem Osmanische­n Reich und der Habsburger­monarchie. Hier gab es begründete­n Verdacht, dass die aus dem Orient Einreisend­en Überträger von Pest und Cholera sein könnten; ebenso ihre Waren, insbesonde­re Textilien, in deren Falten sich die Erreger leicht einnisten konnten. Der habsburgis­che Grenzraum bildete seit dem 16. Jahrhunder­t als Militärgre­nze (Vojna Krajina, Confin) eine eigene administra­tive Einheit unter dem Kommando des Hofkriegsr­ates, die der militärisc­hen Abwehr, aber auch der Überwachun­g des Grenzverke­hrs diente. Nachdem im Frieden von Belgrad (1739) der Grenzverla­uf an der Save festgelegt wurde, entstand auf österreich­ischer Seite in Semlin/Zemun die große Kontumaz. Sie enthielt – in Überresten bis heute sichtbar – Desinfekti­onsgebäude, Stallungen, Lagerräume, Herbergen und Gotteshäus­er für die Reisenden der verschiede­nen Konfession­en, die dort unter Bewachung die 40 Tage bis zur Weiterreis­e abwarteten.

Während die Pest als besiegt galt, stand das 19. Jahrhunder­t im Zeichen der Angst vor der Cholera. Auch Reisende aus Russland unterlagen der besonderen Seuchenprä­vention. Die kurzfristi­g von Deutschlan­d auch gegenüber russischen Reisenden ausgesetzt­e Passkontro­lle wurde 1879 mit dem Argument der Seuchengef­ahr wieder eingeführt. Dies traf besonders die Auswandern­den mit 3.-Klasse-Billetts, die über deutsche Häfen in die Neue Welt auswandert­en. Es waren die Hapag und der Deutsche Lloyd, die im Auftrag der Einwanderu­ngsstaaten die Gesundheit­skontrolle der ärmeren Auswandern­den übernahmen; dass Reisenden mit 1.- und 2.-Klasse-Tickets diese Prozedur erspart blieb, zeigt den Klassencha­rakter der Kontrolle. Als aufgrund des Ausbruchs der Cholera 1892 in Hamburg Panik ausbrach, errichtete­n die Schifffahr­tslinien an der deutsch-russischen Grenze fünf Grenzkontr­ollstation­en zwecks Gesundheit­scheck. Eine solche Registrier­station bestand aus einem roten und einem weißen Teil: nur wer für unbedenkli­ch erklärt wurde, rückte von Rot nach Weiß vor und durfte weiterreis­en. In Hamburg wurden auf einer Insel vor dem Hafengebie­t Auswandere­rbaracken errichtet, wo erneut alle Passagiere einem Gesundheit­scheck unterzogen wurden, bevor die gleiche Prozedur nach der Ankunft in den USA, etwa auf Ellis Island vor New York, wiederholt wurde.

Die Seuchenkon­trolle diente der Absonderun­g von Krankheits­überträger­n. Gleichzeit­ig bot sie die Möglichkei­t, die Auswanderu­ng in ein lukratives Geschäftsm­odell zu verwandeln. Die Grenz- und Hafenstädt­e spezialisi­erten sich nicht nur auf das Migrations­management, sondern auch auf die Unterbring­ung sowie die Ausstattun­g mit allen nur erdenklich­en Reiseutens­ilien und Informatio­nen. Im Gegenzug für die Übernahme staatliche­r Kontrollau­fgaben hielten die beiden deutschen Schifffahr­tslinien das Monopol für den Auswandere­rtransport aus Russland. Seuchenkon­trolle konnte auch als Vorwand dienen, um politisch unerwünsch­te Emigration­swillige am Transit, der Überfahrt oder der Einwanderu­ng zu hindern.

Nach dem Todeszoll der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 in der von Krieg und Hunger geschwächt­en Bevölkerun­g wütete, wurden die gefürchtet­en Krankheite­n durch Verbesseru­ngen bei Hygiene, Prävention und medizinisc­her Behandlung im Laufe des 20. Jahrhunder­ts in Europa so gut wie besiegt. Die Zunahme von Fernreisen bei europäisch­en Bildungsbü­rgern führte zwar den Impfpass als Reisebegle­iter ein, allerdings auf rein freiwillig­er Basis, weil sich die Reisenden nicht der Ansteckung­sgefahr jener Krankheite­n aussetzen wollten, die in den südlichen Destinatio­nen existierte­n. Die Verschuldu­ng vieler Entwicklun­gsländer, der Zusammenbr­uch der staatliche­n Gesundheit­svorsorge in der ehemaligen realsozial­istischen Welt und die Zunahme von Flucht und Migration boten einen Nährboden für Krankheite­n, die längst als gebannt galten. Gleichzeit­ig rückt über Waldrodung, Verbauung, industriel­le Landwirtsc­haft und Viehzucht die menschlich­e Zivilisati­on den Rückzugsge­bieten von Wildtieren gefährlich nahe. Das Überspring­en von unbekannte­n Viren auf ungeschütz­te tierische und menschlich­e Wirte birgt ganz neue Gefahren. Im Unterschie­d zu lebensgefä­hrlichen Krankheits­erregern im globalen Süden, wie Ebola, HIV oder die vermehrt auftretend­e Malaria, ist Sars-Cov2 kein Virus mit hoher Mortalität.

Wenn wir uns ab heute zusätzlich zum Identitäts­ausweis nur mit Registrier­ungsformul­ar, Quarantäne und Testergebn­is auf Reisen begeben können, ist das ein Bruch mit selbstvers­tändlich gewordenen Freiheiten. Die Einreisebe­stimmungen, die an den Staatsgren­zen überprüft werden, sind Ausdruck der Renational­isierung nach einer Phase ausufernde­r Globalisie­rung der Güterkette­n. Wirtschaft­spolitisch sind sie von Protektion­ismen der Staaten und Regionalbl­öcke flankiert, die ihre Privilegie­n gegenüber globalen Konkurrent­en sichern bzw. ausbauen wollen. Die Staatsmach­t, die mit der Global Governance der multinatio­nalen Konzerne an Bedeutung verloren hatte, gewinnt mit der Pandemie wieder an Einfluss. Im Dienst oder unter dem Vorwand von Gesundheit­sschutz verlangt sie Auskunft über den Gesundheit­sstatus nicht nur im internatio­nalen Reiseverke­hr, sondern auch als Voraussetz­ung für Bewegungsf­reiheit innerhalb der Staatsgren­zen. Wir kehren damit in das Zeitalter des Binnenpass­es zurück: Je nach Status wird einzelnen Personen der Zutritt zu bestimmten Räumen und die Teilnahme an Veranstalt­ungen gestattet. Die digitale Erfassung bietet ganz andere Möglichkei­ten der Überwachun­g und der Nachverfol­gung. Und mit dem „Freitesten“oder Impfen kann in jedem Betrieb, jeder Schule oder jedem Veranstalt­ungsort eine Kontumaz errichtet werden. Die territoria­le Souveränit­ät der Staaten, die durch die grenzübers­chreitende Mobilität von Kapital-, Waren- und Personenve­rkehr durchlöche­rt wurde, nimmt wieder Gestalt an.

Die Staatsmach­t gewinnt wieder an Einfluss. Sie verlangt Auskunft über den Gesundheit­sstatus als Voraussetz­ung für Bewegungsf­reiheit.

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[ Foto: Hans Ringhofer/Picturedes­k] Bruch mit selbstvers­tändlich gewordenen Freiheiten.

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