Der erste Protokollsatz
Über Adornos „Minima Moralia“oder Du tust nichts, um . . .
Kleine Kinder, sagt Fran Lebowitz in einer Dokuserie, die ich abends schaue, während Du mit Deiner Mutter bei den Großeltern und der Uroma in Berlin bist, seien die am wenigsten nervenden Menschen – weil sie immer etwas sagten, das man nicht schon tausendmal gehört habe.
Nun bist Du noch nicht so weit, obwohl Du in den letzten Tagen begonnen hast, Wörter relativ wortgetreu nachzusprechen. An dem frühen Morgen, an dem Ihr nach Berlin aufbracht, sagtest Du allerdings etwas wie Deinen ersten Satz. Er begann mit einem Nomen: „Dada“, welches für Papa steht. Du schienst zu räsonieren, ehe Du das Verb lautmalerisch mit viel Luft aus Deinem Mund presstest: „Pfffff.“Das war ein Protokollsatz, „streng im Sinn des Wiener Kreises des Logischen Empirismus“: Durch Erinnerung an eine sinnliche Beobachtung konnten wir uns intersubjektiv auf die Gültigkeit Deiner Aussage einigen. Deine Mutter und ich lachten. In der Form, in der Otto Neurath Protokollsätze protokolliert wissen wollte, hieße es: „Amalia Maria Susewinds Protokoll am 10.1.2021 um 5 Uhr 31 Minuten: [Amalia Maria Susewinds Sprechdenken war am 10.1.2021 um 5 Uhr 30 Minuten]: (Aus Dada entwich am 10.1.2021 um 5 Uhr 30 Minuten lautstark Luft.)“
Kinder – die reine Möglichkeit
Auch kleine Kinder, die noch nicht – und nur sehr selten in Protokollsätzen – sprechen, gehören zu den am wenigsten nervenden Menschen, obwohl sie einen durchaus auf die Palme bringen können. Und zwar nicht, weil sie nicht anders können – Du tust vieles absichtlich, um Mama oder Papa zu ärgern oder zu necken, wobei das Ärgern oder Necken genauso gut ein Spiegeln oder Zurückzahlen sein könnte. Auch nicht unbedingt, weil Du ständig etwas tust, das man nicht erwartet oder so noch nicht gesehen hat, etwa den Elefanten, der auf einmal auf dem Wal (Töpfchen) sitzt, auf dem eigentlich Du sitzen solltest. Sondern vor allem, weil das meiste von dem, was Du tust, keinen Zweck verfolgt: Du tust es, weil Du es tust. Du tust es nicht, um. Du läufst in Dein Zelt und wirfst Dich hinein. Du ziehst Bücher aus der Bibliothek und bringst sie irgendwo hin. Du hebst Steine auf und lässt sie viel später aus der Hand fallen.
Wahrscheinlich lieben so viele Menschen kleine Kinder, weil sie in ihnen die reine Möglichkeit sehen, so vieles noch nicht festgeschrieben ist – selbst dann, wenn sie in unglückliche Umstände geboren sind. Insgeheim aber lieben so viele Menschen kleine Kinder aus einem anderen Grund: Weil sie nicht arbeiten müssen. Oder: Weil sie nichts tun müssen, das sie nicht freiwillig täten, wenn es ihnen nicht das Überleben sicherte.
Das meinte Adorno, wenn er in den „Minima Moralia“, den „Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, schrieb, dass die schmähliche Alternative, vor die der Spätkapitalismus – der schon ziemlich lange andauert – all seine Angehörigen stelle, laute: „auch ein Erwachsener zu werden oder ein Kind zu bleiben“. Sagt man jemandem, er oder sie solle endlich erwachsen werden, meint man damit für gewöhnlich, er oder sie solle endlich das tun, was alle anderen auch ungern tun, aber täten, weil es nicht anders ginge, weil das Leben und die Welt nun einmal so seien. Endlich erwachsen zu werden, fordert also, sich das Spielerische, das Ungestüme, das Widerspenstige, das Nichtimmernachvollziehbare, das Zwecklose abzugewöhnen, um seinen oder ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen und überleben zu können. Kind zu sein, bedeutet in dieser schmählichen Alternative, sich der Beschneidung der eigenen Möglichkeiten und Kräfte nicht zu beugen. Sich keinen Platz vorschreiben zu lassen – und zu leben.