Kalt unter der Wortlawine
Überambitioniert: Rebecca Solnits wortreiches Spiel vom Fragen – und Antworten.
Es gibt ein zerfledderndes Schreiben und ein kompaktes. Rebecca Solnit hat es mit der zweiten Version. Sie treibt einen mit ihrem Schreib- in einen Leserhythmus, das heißt, man folgt ihr, ist gezwungen zu folgen, man beginnt zu gehen mit dem Buch, und so manches Mal ist man versucht zu tanzen mit ihm.
Statt zu rezensieren, käme man mit Zitaten aus, aber da müsste man gute Teile des Buches zitieren. Solnit gönnt einem keine Pause zum Atemholen in ihrem Parforceritt durch den Dschungel, vollgerammelt mit Fragen und auch Antworten, die aber, gleich sei es vorweggenommen, ebenso unzulänglich sind wie wahrscheinlich alle Antworten. Wir sind gemacht fürs Fragen, mit den Antworten haben wir es nicht. Man staunt über die Komplexität des Geschriebenen und die raumgreifende Verfolgung eines anfangs vielleicht etwas dünnen Gedankens, der anschwillt, eine Wortlawine auslöst schließlich, aber, wie gesagt, man staunt, aber man wird nicht warm damit.
Solnit zieht die Denkschraube dermaßen an, dass sie sie überdreht. Der eben noch hochfliegende Gedanke geht im Sturzflug nieder und zerschellt. Schade. Ein Hauch von Manie zieht über die Seiten, ja und von leichtem Manierismus auch. Alltagsdinge bekommen Dimensionen, unter denen man sie im Alltag nicht bewältigen könnte. Nicht, weil man sie nicht bedenkt, aber weil man nicht zu Solnits Schlüssen kommt, die einen lähmen oder gar zur Aufgabe zwingen könnten. Anleitung zur Niederlage hätte auch gepasst als Titel. Aber wer schon bedenkt die Niederlage? Eben, wir bedenken sie nicht, also müssen wir sie erleiden und hinnehmen dann.
Gänseblümchenkette
Worum geht es da eigentlich? Die Titel der Kapitel lassen es ahnen: vier Kapitel Das Blau der Ferne, dazu in einmaliger Ausfertigung Gänseblümchenkette, Verlassenheit und Hingabe, Zwei Pfeilspitzen und Eingeschoßiges Haus. Verlieren sollen wir uns, um etwas zu finden.
Ausgangspunkt ist ein Zitat aus dem Dialog „Menon“von Plato: Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist? Blitzantwort unmöglich. Und da meint Solnit, wir sollten die Kunst erlernen, uns zu verlieren, dann würden wir schon so manches Mysterium ergründen und dann aufblättern. Schöne Absicht, Erfolgschancen knapp über null. Weniger Seiten hätten es auch getan, denn genau das ist es, was einen allmählich erlahmen lässt: Dichte Seiten von Brillanz und Spannung in Hülle und Fülle, aber die Hülle und Fülle erstrecken sich auch auf geschwätzige Abschnitte.
Und so wird aus dem Gehen und dem Tanzen mit dem Buch zu Anfang ein scheeler Blick im Sitzen auf eloquenten, geschmeidig formulierten, doch zu viel Eifer, der sich allzu sehr auf sich verlässt. Das offensichtlich recht muskulöse Solnit-Selbstbewusstsein legt sich ein Ei, denn wollten wir uns alle verlieren, blieben noch immer die Mysterien bestehen. Sie sind uns nicht nur überlegen, sie lachen sogar über unseren Eifer, ihnen auf die Schliche zu kommen; als ob ein Geheimnis per se nicht eine unantastbare Schönheit wäre, die zu betasten einem Sakrileg gleichkäme.
Hätte sich Solnit ein wenig an die Kandare genommen und nicht zu streichen (par exemple „die pastorale Welt einer lyrischen europäischen Kultur“, die, mit Verlaub, mir nicht bekannt ist) vergessen, so hätten wir ein hervorstechendes Buch, so aber ist es nur ein gutes Buch unter vielen guten Büchern.
Rebecca Solnit
Die Kunst, sich zu verlieren Ein Wegweiser. 204 S., geb., € 22,70 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)