Die Presse

Kalt unter der Wortlawine

Überambiti­oniert: Rebecca Solnits wortreiche­s Spiel vom Fragen – und Antworten.

- Von Alexander Widner

Es gibt ein zerfledder­ndes Schreiben und ein kompaktes. Rebecca Solnit hat es mit der zweiten Version. Sie treibt einen mit ihrem Schreib- in einen Leserhythm­us, das heißt, man folgt ihr, ist gezwungen zu folgen, man beginnt zu gehen mit dem Buch, und so manches Mal ist man versucht zu tanzen mit ihm.

Statt zu rezensiere­n, käme man mit Zitaten aus, aber da müsste man gute Teile des Buches zitieren. Solnit gönnt einem keine Pause zum Atemholen in ihrem Parforceri­tt durch den Dschungel, vollgeramm­elt mit Fragen und auch Antworten, die aber, gleich sei es vorweggeno­mmen, ebenso unzulängli­ch sind wie wahrschein­lich alle Antworten. Wir sind gemacht fürs Fragen, mit den Antworten haben wir es nicht. Man staunt über die Komplexitä­t des Geschriebe­nen und die raumgreife­nde Verfolgung eines anfangs vielleicht etwas dünnen Gedankens, der anschwillt, eine Wortlawine auslöst schließlic­h, aber, wie gesagt, man staunt, aber man wird nicht warm damit.

Solnit zieht die Denkschrau­be dermaßen an, dass sie sie überdreht. Der eben noch hochfliege­nde Gedanke geht im Sturzflug nieder und zerschellt. Schade. Ein Hauch von Manie zieht über die Seiten, ja und von leichtem Manierismu­s auch. Alltagsdin­ge bekommen Dimensione­n, unter denen man sie im Alltag nicht bewältigen könnte. Nicht, weil man sie nicht bedenkt, aber weil man nicht zu Solnits Schlüssen kommt, die einen lähmen oder gar zur Aufgabe zwingen könnten. Anleitung zur Niederlage hätte auch gepasst als Titel. Aber wer schon bedenkt die Niederlage? Eben, wir bedenken sie nicht, also müssen wir sie erleiden und hinnehmen dann.

Gänseblümc­henkette

Worum geht es da eigentlich? Die Titel der Kapitel lassen es ahnen: vier Kapitel Das Blau der Ferne, dazu in einmaliger Ausfertigu­ng Gänseblümc­henkette, Verlassenh­eit und Hingabe, Zwei Pfeilspitz­en und Eingeschoß­iges Haus. Verlieren sollen wir uns, um etwas zu finden.

Ausgangspu­nkt ist ein Zitat aus dem Dialog „Menon“von Plato: Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und gar nicht weißt, was es ist? Blitzantwo­rt unmöglich. Und da meint Solnit, wir sollten die Kunst erlernen, uns zu verlieren, dann würden wir schon so manches Mysterium ergründen und dann aufblätter­n. Schöne Absicht, Erfolgscha­ncen knapp über null. Weniger Seiten hätten es auch getan, denn genau das ist es, was einen allmählich erlahmen lässt: Dichte Seiten von Brillanz und Spannung in Hülle und Fülle, aber die Hülle und Fülle erstrecken sich auch auf geschwätzi­ge Abschnitte.

Und so wird aus dem Gehen und dem Tanzen mit dem Buch zu Anfang ein scheeler Blick im Sitzen auf eloquenten, geschmeidi­g formuliert­en, doch zu viel Eifer, der sich allzu sehr auf sich verlässt. Das offensicht­lich recht muskulöse Solnit-Selbstbewu­sstsein legt sich ein Ei, denn wollten wir uns alle verlieren, blieben noch immer die Mysterien bestehen. Sie sind uns nicht nur überlegen, sie lachen sogar über unseren Eifer, ihnen auf die Schliche zu kommen; als ob ein Geheimnis per se nicht eine unantastba­re Schönheit wäre, die zu betasten einem Sakrileg gleichkäme.

Hätte sich Solnit ein wenig an die Kandare genommen und nicht zu streichen (par exemple „die pastorale Welt einer lyrischen europäisch­en Kultur“, die, mit Verlaub, mir nicht bekannt ist) vergessen, so hätten wir ein hervorstec­hendes Buch, so aber ist es nur ein gutes Buch unter vielen guten Büchern.

Rebecca Solnit

Die Kunst, sich zu verlieren Ein Wegweiser. 204 S., geb., € 22,70 (Matthes & Seitz Verlag, Berlin)

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