Ein Skiort nach eigenen Regeln
Belluno. Die ersten Bergsteiger und hochkarätigste Skibewerbe machten Cortina d’Ampezzo international berühmt. Ein Urlaub bei der „Königin der Dolomiten“muss derzeit warten, zumindest können wir bei der Ski-Weltmeisterschaft zusehen.
Den Sprung hat Kristian Ghedina schon so viele Male gezeigt, dass er sich nicht mehr erinnern kann, wie oft. Dem Abfahrtsstar der Neunzigerjahre fiel 2004 auf der Streif in Kitzbühel auf den letzten Metern nichts Übermütigeres ein, als mit gegrätschen Beinen und mit weit mehr als 100 Sachen über die letzte Welle des Zielhangs zu springen. Der Hahnenkammsieg, das wusste Ghedina, war eh schon verloren. Warum also sich nicht mit Jux und Akrobatik unvergesslich machen, wenn es noch gar nicht in den Oberschenkeln brennt?
Geübt für solche Stunts hat der heutige Sportbotschafter der nahenden Skiweltmeisterschaft in Cortina d’Ampezzo auf seinen heimatlichen Bergen, den Pisten unter den schönsten Dolomitengipfeln, von klein an. Auch an einer noch wilderen Schlüsselstelle als dem Streif-Zieleinlauf: Der obere Teil der Olympia delle Tofane ist steilst zwischen zwei Felsen eingeschnittenen. Die Weltcupdamen legen hier bei den Abfahrtsrennen regelmäßig bis zu 130 km/h Speed zu, die die Mutigsten auch gleich in die nächste Kurve zum nächsten Sprung mitnehmen.
Steile Rinne zwischen Felsen
Unsereins überlegt da eine Strategie zwischen seitlichem Abrutschen und mäßig elegantem Hinunterkurven. Die schwarze Markierung der Weltcuppiste auf der Tofana ist nämlich eine starke Untertreibung. Doch ganz locker von der Kante zeigt uns Ghedina – damals in Zeiten von Prä-Corona, als man an ewig rauschende SkiEvents mit Publikum und Party glaubte –, wie das geht. „Die Grätsche war eine Wette mit der Cousine“, fügt der mehrfache Medaillengewinner hinzu, der auch mit angeknackstem Wirbel oder Gehirnerschütterung ein Rennen nicht gleich aufgab. Und obwohl lang weltweit unterwegs mit dem Skizirkus – nichts gehe über das
Zuhause in den Ampezzaner Dolomiten.
Vom 7. bis 21. Februar sollen nun in Cortina d’Ampezzo die alpinen Skiweltmeisterschaften stattfinden. Die Rennen werden – nach derzeitigem Stand und im neuerlichen Lockdown – wohl unter Ausschluss der Öffentlichkeit ausgetragen. Die Bewerbe finden im Bereich der Tofana statt, auf der auch eine neue Piste – die spektakuläre Vertigine (für die Herrenabfahrt) – angelegt wurde. 2026 soll ein noch größeres Ereignis für die berühmte Dolomitengemeinde im Belluno/Veneto folgen: Nach 1956 kehren die Olympischen Spiele wieder nach Cortina d’Ampezzo zurück.
Erste Alpinisten
Die Vorbereitungen zu diesen nicht nur sportlichen Ereignissen sind schon länger sichtbar am Berg und im Ortsbild: Neue Bergbahnen ersetzen einige in die Jahre gekommene Lifte. Das alte Stadion wird saniert. Unten im Ort wird überall gebaut, restauriert, adaptiert, ohne neues Grünland zu erschließen. In Cortina wird die Widmung streng gehandhabt heute, die Auflagen für neue Architektur sind groß. Das allerdings hat ein Missverhältnis von 5700 Einwohnern und rund 5000 Hotel- sowie 30.000 oft kalten Betten in den Appartements der meist aus Flachland-Italien stammenden Nebenwohnsitzler über die Jahrzehnte nicht verhindert.
Aus unserer Skifahrerperspektive, oben von den fantastischen Dolomitenflanken der rundum liegenden Pisten, mutet Cortina kompakt an. Ein über die Jahrhunderte gewachsener Ort. Mit viel älterer Substanz, als in einigen anderen alpinen Tourismus-Gemeinden überlebt hat. Hier durfte oder musste vieles stehen bleiben. Das erweist sich durchaus als Gewinn: Der Retrocharme der vergangenen olympischen Tage lässt sich heute nutzen und kultivieren. Er schafft Ambiente. Über manchem Hotel oder Lokal prangen die alten Schriften, drinnen stehen Vintage-Möbel, nicht alle Skilifte und Hütten sind supermodern, aber kulinarisch überzeugend. Die alten Gebäude zeigen ihre ursprünglich bäuerliche Herkunft – Holzläden, Holzbalkone. Und darunter zeugt wiederum stattliche Architektur mit fein Geschnitztem vom frühen Sommerfrische-Gebrauch. Selbst die paar Betonbauten aus den 1960ern fügen sich für Nostalgiker recht gut ein in den Ort, der in seiner langen Geschichte schon vieles war, einmal venezianisch, einmal habsburgisch. Und der im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem weithin bekannten Ziel von Alpinisten wurde, die die wildesten Routen in den Dolomiten begingen, in denen später, im Ersten Weltkrieg, gekämpft wurde.
Bella Figura am Corso
Cortina ist nicht wie andere exklusiven Skiorte mit internationalem Ruf. Und irgendwie doch, ein bisschen. In und um die zentrale Einkaufsstraße, den Corso Italia, reihen sich Schaufenster mit Skimode, die etwas mehr auf Körper geschnitten ist. Boutiquen mit Kaschmir. Auch vor Glitzer fürchtet sich die Kundschaft nicht. Viele Luxusbrands, verdichtet auf kleinem Raum. Dazwischen Cafes´ mit gutem Kuchen und Gelato, dort und da eine Enoteca mit feinen italienischen Weinen, auch eine Birreria ist da. Ein frei stehender Kirchturm. Bürgerhäuser mit Fresken. Eine ordentlich bestückte Buchhandlung. Vor allem rund um Weihnachten mischen sich Echtpelzmäntel zwischen die Flaneure, man zeigt sein verjüngtes Gesicht. Kurze Einkehr zwecks Espresso. Dann Aperitivo. Noch ein Spontankauf, auch wenn man im Schnee Stilettos selten braucht. Alles ganz entspannt. Mancher Local unkt, dass im Zentrum weit mehr Auswärtige unterwegs seien als auf der Piste (gut für die sportlichen Einheimischen). Vor allem in der Hochsaison. Und als die italienische Finanzpolizei vor rund zehn Jahren beschloss, mit der Steuerfahndung ernst zu machen, so berichteten die Medien, hielt man einfach die noblen Karossen an und überprüfte, wie diese mit dem Einkommen der Fahrzeughalter aus Rom, Mailand oder Bologna korrelierten. Aber das ist Schnee von gestern.
Man spricht Ladin
Genauso wie traditionsreiche, über viele Jahrzehnte natürlich gewachsene und nicht allein vom Tourismus abhängige Orte hat Cortina auch diese sehr einnehmende andere Seite: die gemütliche, die ursprüngliche, die rustikale. Spürbar ist das lokale Selbstbewusstsein, die angestammten Bewohner, die Ampezzani, sind stolz auf ihren Ort. Leute wie Ghedina, deren Familien seit Generationen hier umkreist vom Lagazuoi, der Tofana di Mezzo und dem Monte Cristallo siedeln. Sie tragen die ladinische Kultur weiter.
Auch wenn nur ein paar Zehntausend Menschen diese romanische Sprache in den Dolomitentälern sprechen und sie (anders als in Südtirol) im Veneto nicht in der Schule gelehrt wird, ist die Tradition aufrecht. Es gibt eine wöchentliche Zeitung, ein gut bestücktes Volkskundemuseum, ein wachsendes Interesse an Ladinischkursen, wie Elsa Zardini erklärt. Sie ist die Präsidentin der „Union de i Ladis de Ampezzo“, aber auch zuständig für die ande
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Die ladinische Kultur und Sprache sind ein Schatz in den Dolomiten, den wir nicht aufgeben dürfen.
Elsa Zardini