Das Polarlicht kann warten
Lappland. Im Norden von Schweden dauert der Winter sechs Monate, liegt der Schnee meterhoch und sind die Schlittenhunde für Besucher im Einsatz.
Kiruna Flygplats sieht aus wie eine Polarstation. Vor der Arena-Arctica-Halle kommt der Flieger zum Stehen. Die SK-1045 ist die einzige Maschine heute. Sofort werden die Triebwerke mit Schutzhauben abgedeckt. Die drei Passagiere ziehen ihr Gepäck durch den Schnee hinüber zu einem Flachbau. Auf dem Schild steht „Ankomst“. Ja, angekommen – am 68. Breitengrad im äußersten Norden Europas. Rund um den Flugplatz türmen sich die Schneewehen meterhoch.
Der vor der Tür geparkte SUV trägt Spikes. Mit den speziellen Stahlstift-Reifen fährt man hier oben fast die Hälfte des Jahres – so lang dauern die Winter in Lappland. Im Volvo läuft bereits die Standheizung. Hinten stapelt sich das Großgepäck, Arctic Overalls, Winter-Boots, Fellmützen, dicke Handschuhe und etliche Paar Thermosocken. Nun übernimmt das Navi.
Rechts führt die Straße auf die E45 hinauf nach Finnland, nach Karesuvanto, einem 140-Einwohner-Dorf am Ufer des Grenzflusses Muonionjoki. Links geht’s auf der E10 nach Norwegen, hinüber nach Narvik. Die letzten Grenzorte davor sind Abisko und Björkliden – das erste Etappenziel der Reise ins Schneeland.
Auf dem Schnee fährt es sich weich und gedämpft. Draußen ist alles weiß, bis zum Horizont, wo sich die Berge mit aufgesetzten dicken Schneekappen in den Winterhimmel heben. Was für ein weites Land. Kein Haus – nur Landschaft. Wenn sich ein Pick-up nähert, dann huckepack mit einem Schneemobil beladen. Lang zieht sich das Ufer eines riesigen Sees: Der 170 Meter tiefe Torneträsk streckt sich 70 Kilometer in die Länge. Sein Eis wird erst im Juni schmelzen.
Abisko! Vom Ort ist zunächst wenig zu sehen, denn die Häuschen liegen hinter fünf Meter hohen Schneewehen verborgen. Mina Johansson Dahl hat das kleine Cottage aufgeheizt. Sie und ihr Mann, Dick, der als Direktor der Swedish Mountain Guides Association vorstand, leiten die Abisko Mountain Lodge im 200-Einwohner-Ort. Die 19-Zimmer-Lodge wurde vor zwanzig Jahren als SkiUnterkunft errichtet. Mit ihrem achtköpfigen Mountain-GuideTeam bringen die beiden Hochalpinprofis Besucher in die Berge des Abisko-Nationalparks. Hier oben sind die Winter absolut schneesicher. Die Skisaison dauert sechs Monate: Noch bis Mitte Mai ist Skifahren angesagt. „Aber so viel Schnee wie jetzt gab es lang nicht mehr“, sagt Mina und hilft uns in die Arctic-Overalls. Vor ein paar Jahren begannen sich die Anfragen zu ändern, „und nach Abisko kamen Gäste aus Amerika und Asien“. Und auf einmal fragten alle nach den grün leuchtenden Himmelslichtern.
Polarlicht schauen
Die Aurora Borealis, das Polarlicht, das Nordlicht – von September bis März ist es zu sehen, das magische Leuchten in den Polarregionen, in Alaska und Anchorage, auf der Isle of Skye oder in Spitzbergen, in Tromsø und im schwedischen Lappland. Abisko wird unter die weltbesten Plätze für Polarlichter gereiht. Denn der Nationalpark gilt als Schwedens trockenstes Gebiet, und der kleine Ort in der
Grenzregion zu Norwegen wird beidseitig beschirmt von Bergen – die besten Wolkenfänger! Und, wird sich das Polarlicht heute zeigen? Mina schaut in ihre Polarlicht-App und wackelt mit dem Kopf. „Aurora Forecast sieht eine kleine Chance.“Jeder in Abisko hat seine eigene Polarlicht-App und schwört auf den jeweiligen Favoriten, den mit der höchsten Glaubwürdigkeitsstufe.
Um 22 Uhr ist Aufbruch. Wir stapfen in Arctic-Overalls zur Aurora Sky Station. Der Sessellift wird per Hand eingeschaltet. Der 1966 erbaute Ski-Lift, made in Austria, führt 900 Meter hinauf – ohne Beleuchtung. Unterm Sternenhimmel erhellt der Schnee die Nacht. Frei schweben wir bergan. Zwei Paar Moon Boots wippen über den Hängen des Mount Nuolja. Schneebrillen schützen die Gesichter. Oben springen wir ab. Die Bergstation versinkt im Tiefschnee. Da drüben liegen die Fjorde Norwegens, und in der anderen Richtung zeigt sich ein riesiges U im Himmel, das Lapporten, ein markantes Trogtal zwischen zwei Bergen und Wahrzeichen von Abisko. „Cˇuonja´va´ggi“flüstere ich den samischen Namen in die Kälte. Wir sind 300 Kilometer nördlich des Polarkreises. Nur das Polarlicht will nicht erscheinen. Gegen Mitternacht nehmen wir die Abfahrt hinunter.
Mit Gebell übers Fjell
Am Morgen, während sich Dick und Mina vorbereiten auf eine Outback-Tour auf dem Kungsleden, dem bekannten Trekking-Königsweg, wählen die Lappland-Anfänger den Weg der Bequemlichkeit. Hundeschlittenführerin Christine Bergholdt spannt Alphonse und Aron, Bucko und Snoop, Vincent und Whisky, Ante und Aki ins Geschirr, dann den fuchsroten Vanni und Kurt dazu und zuletzt Vicky und Basti als ton- und tempoangebende Leader davor. Die Alaskan Huskies stürmen mit Gebell und Begeisterung über die Hochebenen des Nationalparks, die Gäste auf Rentierfellen mitziehend.
Am Abend, beim Northern Lights Dinner im Skiresort Björkliden, bekommt das Polarlicht eine neue Chance. Der Nachbarort hat deutlich mehr Skipisten als Einwohner: 23 Abfahrten und fünf Lifte machen Björkliden zu einem der besten Ski-Spots Skandinaviens. Schnee gibt es im Übermaß! Nur zum Einkaufen oder Fischessen fährt man hinüber ins nahe Narvik. Auf dem Rückweg, mit Schneeschuhen durch die Nacht stapfend, bleibt der Himmel schneeverhangen.
Vielleicht braucht es Arktisprofis. Wir verabreden uns mit einer ortsansässigen Fotografin für den nächsten Tag in Jukkasjärvi, einem Ort zweihundert Kilometer nördlich des Polarkreises und weltbekannt für eine besondere Herberge: Jedes Jahr wird hier das Ice Hotel mit seinen Art-Suiten aus dem Eis des Torne River gebaut. Anette Niia winkt schon und lädt gleich die Kameraausrüstung in ihren Van. Die Fotografin und Filmemacherin arbeitet für Scandinavian Photoadventures. In einer SamiFamilie aufgewachsen, kennt sie die Wildnis hier oben. Mit Anette stapfen wir die halbe Nacht durch den Tiefschnee, wandern am Ufer des Torneträsk, folgen Rentierspuren in den Wäldern, ziehen tief atmend die arktisch klare Luft ein – und halten sie an! Ein Elch, übermannshoch, steht zwischen den Tannen und zupft Moos herunter. Schnee rutscht nach und schüttet flockenstiebend übers Geweih. Der Elch blickt herüber, mit Moos und Schnee im Geweih. Was für ein imposantes Bewegtbild! Der Elch ist der Star. Und das Polarlicht kann warten; bis zum nächsten Mal.