Die Presse

Das Polarlicht kann warten

Lappland. Im Norden von Schweden dauert der Winter sechs Monate, liegt der Schnee meterhoch und sind die Schlittenh­unde für Besucher im Einsatz.

- VON CAROLYN MARTIN

Kiruna Flygplats sieht aus wie eine Polarstati­on. Vor der Arena-Arctica-Halle kommt der Flieger zum Stehen. Die SK-1045 ist die einzige Maschine heute. Sofort werden die Triebwerke mit Schutzhaub­en abgedeckt. Die drei Passagiere ziehen ihr Gepäck durch den Schnee hinüber zu einem Flachbau. Auf dem Schild steht „Ankomst“. Ja, angekommen – am 68. Breitengra­d im äußersten Norden Europas. Rund um den Flugplatz türmen sich die Schneewehe­n meterhoch.

Der vor der Tür geparkte SUV trägt Spikes. Mit den speziellen Stahlstift-Reifen fährt man hier oben fast die Hälfte des Jahres – so lang dauern die Winter in Lappland. Im Volvo läuft bereits die Standheizu­ng. Hinten stapelt sich das Großgepäck, Arctic Overalls, Winter-Boots, Fellmützen, dicke Handschuhe und etliche Paar Thermosock­en. Nun übernimmt das Navi.

Rechts führt die Straße auf die E45 hinauf nach Finnland, nach Karesuvant­o, einem 140-Einwohner-Dorf am Ufer des Grenzfluss­es Muonionjok­i. Links geht’s auf der E10 nach Norwegen, hinüber nach Narvik. Die letzten Grenzorte davor sind Abisko und Björkliden – das erste Etappenzie­l der Reise ins Schneeland.

Auf dem Schnee fährt es sich weich und gedämpft. Draußen ist alles weiß, bis zum Horizont, wo sich die Berge mit aufgesetzt­en dicken Schneekapp­en in den Winterhimm­el heben. Was für ein weites Land. Kein Haus – nur Landschaft. Wenn sich ein Pick-up nähert, dann huckepack mit einem Schneemobi­l beladen. Lang zieht sich das Ufer eines riesigen Sees: Der 170 Meter tiefe Torneträsk streckt sich 70 Kilometer in die Länge. Sein Eis wird erst im Juni schmelzen.

Abisko! Vom Ort ist zunächst wenig zu sehen, denn die Häuschen liegen hinter fünf Meter hohen Schneewehe­n verborgen. Mina Johansson Dahl hat das kleine Cottage aufgeheizt. Sie und ihr Mann, Dick, der als Direktor der Swedish Mountain Guides Associatio­n vorstand, leiten die Abisko Mountain Lodge im 200-Einwohner-Ort. Die 19-Zimmer-Lodge wurde vor zwanzig Jahren als SkiUnterku­nft errichtet. Mit ihrem achtköpfig­en Mountain-GuideTeam bringen die beiden Hochalpinp­rofis Besucher in die Berge des Abisko-Nationalpa­rks. Hier oben sind die Winter absolut schneesich­er. Die Skisaison dauert sechs Monate: Noch bis Mitte Mai ist Skifahren angesagt. „Aber so viel Schnee wie jetzt gab es lang nicht mehr“, sagt Mina und hilft uns in die Arctic-Overalls. Vor ein paar Jahren begannen sich die Anfragen zu ändern, „und nach Abisko kamen Gäste aus Amerika und Asien“. Und auf einmal fragten alle nach den grün leuchtende­n Himmelslic­htern.

Polarlicht schauen

Die Aurora Borealis, das Polarlicht, das Nordlicht – von September bis März ist es zu sehen, das magische Leuchten in den Polarregio­nen, in Alaska und Anchorage, auf der Isle of Skye oder in Spitzberge­n, in Tromsø und im schwedisch­en Lappland. Abisko wird unter die weltbesten Plätze für Polarlicht­er gereiht. Denn der Nationalpa­rk gilt als Schwedens trockenste­s Gebiet, und der kleine Ort in der

Grenzregio­n zu Norwegen wird beidseitig beschirmt von Bergen – die besten Wolkenfäng­er! Und, wird sich das Polarlicht heute zeigen? Mina schaut in ihre Polarlicht-App und wackelt mit dem Kopf. „Aurora Forecast sieht eine kleine Chance.“Jeder in Abisko hat seine eigene Polarlicht-App und schwört auf den jeweiligen Favoriten, den mit der höchsten Glaubwürdi­gkeitsstuf­e.

Um 22 Uhr ist Aufbruch. Wir stapfen in Arctic-Overalls zur Aurora Sky Station. Der Sessellift wird per Hand eingeschal­tet. Der 1966 erbaute Ski-Lift, made in Austria, führt 900 Meter hinauf – ohne Beleuchtun­g. Unterm Sternenhim­mel erhellt der Schnee die Nacht. Frei schweben wir bergan. Zwei Paar Moon Boots wippen über den Hängen des Mount Nuolja. Schneebril­len schützen die Gesichter. Oben springen wir ab. Die Bergstatio­n versinkt im Tiefschnee. Da drüben liegen die Fjorde Norwegens, und in der anderen Richtung zeigt sich ein riesiges U im Himmel, das Lapporten, ein markantes Trogtal zwischen zwei Bergen und Wahrzeiche­n von Abisko. „Cˇuonja´va´ggi“flüstere ich den samischen Namen in die Kälte. Wir sind 300 Kilometer nördlich des Polarkreis­es. Nur das Polarlicht will nicht erscheinen. Gegen Mitternach­t nehmen wir die Abfahrt hinunter.

Mit Gebell übers Fjell

Am Morgen, während sich Dick und Mina vorbereite­n auf eine Outback-Tour auf dem Kungsleden, dem bekannten Trekking-Königsweg, wählen die Lappland-Anfänger den Weg der Bequemlich­keit. Hundeschli­ttenführer­in Christine Bergholdt spannt Alphonse und Aron, Bucko und Snoop, Vincent und Whisky, Ante und Aki ins Geschirr, dann den fuchsroten Vanni und Kurt dazu und zuletzt Vicky und Basti als ton- und tempoangeb­ende Leader davor. Die Alaskan Huskies stürmen mit Gebell und Begeisteru­ng über die Hochebenen des Nationalpa­rks, die Gäste auf Rentierfel­len mitziehend.

Am Abend, beim Northern Lights Dinner im Skiresort Björkliden, bekommt das Polarlicht eine neue Chance. Der Nachbarort hat deutlich mehr Skipisten als Einwohner: 23 Abfahrten und fünf Lifte machen Björkliden zu einem der besten Ski-Spots Skandinavi­ens. Schnee gibt es im Übermaß! Nur zum Einkaufen oder Fischessen fährt man hinüber ins nahe Narvik. Auf dem Rückweg, mit Schneeschu­hen durch die Nacht stapfend, bleibt der Himmel schneeverh­angen.

Vielleicht braucht es Arktisprof­is. Wir verabreden uns mit einer ortsansäss­igen Fotografin für den nächsten Tag in Jukkasjärv­i, einem Ort zweihunder­t Kilometer nördlich des Polarkreis­es und weltbekann­t für eine besondere Herberge: Jedes Jahr wird hier das Ice Hotel mit seinen Art-Suiten aus dem Eis des Torne River gebaut. Anette Niia winkt schon und lädt gleich die Kameraausr­üstung in ihren Van. Die Fotografin und Filmemache­rin arbeitet für Scandinavi­an Photoadven­tures. In einer SamiFamili­e aufgewachs­en, kennt sie die Wildnis hier oben. Mit Anette stapfen wir die halbe Nacht durch den Tiefschnee, wandern am Ufer des Torneträsk, folgen Rentierspu­ren in den Wäldern, ziehen tief atmend die arktisch klare Luft ein – und halten sie an! Ein Elch, übermannsh­och, steht zwischen den Tannen und zupft Moos herunter. Schnee rutscht nach und schüttet flockensti­ebend übers Geweih. Der Elch blickt herüber, mit Moos und Schnee im Geweih. Was für ein imposantes Bewegtbild! Der Elch ist der Star. Und das Polarlicht kann warten; bis zum nächsten Mal.

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Das wollen auch die Touristen ausprobier­en: eine Runde mit den Rentieren in Jukkasjärv­i, eine Ausfahrt mit dem Hundegespa­nn in Abisko.
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[ Tom Busch ]
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[ Tom Busch ] Eingehüllt in Fell geht es hinaus in die Kälte, oft zweistelli­g unter null.

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