HAT DIE EU FALSCH VERHANDELT?
Corona-Impfstoffe. Die EUKommission dürfte bei den Vakzinen zu stark auf den Preis geachtet haben. Das könnte sich nun rächen.
Wien/ Brüssel. Um 60 Prozent weniger Impfstoff von AstraZeneca im ersten Quartal: Die EU-Mitglieder drohen mit rechtlichen Schritten und sehen ihre Impfpläne durchkreuzt. Doch wo liegen die Ursachen, dass Europa im Impf-Wettlauf an Boden verliert?
1 31 Mio. statt 80 Mio. Dosen: Gefährdet AstraZeneca die gesamte Impfstrategie der EU?
Nein. Die EU-Bestellungen fußen auf einstweilen sechs Herstellern (zwei weitere sollen folgen) und decken weit mehr als die gesamte EU-Bevölkerung ab. Es wird aber zu einer Verzögerung kommen, da jener von AstraZeneca der nächste Impfstoff ist, der Anfang Februar ausgeliefertg werden soll. Die Auswirkungen auf Ö sterreich sind ähnlich. Im ersten Quartal könnten laut unbestätigten Berichten über eine Mio. Impfdosen fehlen. Die Bundesregierung hatte auf diesen Impfstoff gesetzt, um die Durchimpfung älterer Personen zu erreichen. Allerdings gibt es auch gute Nachrichten: Pfizer/Biontech kann laut ihrem Österreich-Geschäftsführer Robin Rumler im ersten Quartal trotz temporärer Produktionseinschränkungen letztlich 1,1 Mio. statt der geplanten 900.000 Dosen liefern.
2 Was genau ist passiert? Und ist diesbezüglich das letzte Wort schon gesprochen?
Nach Angaben von AstraZeneca gibt es Probleme bei einem Zulieferer in Belgien – weshalb die EU von der Kürzung der Liefermenge betroffen sein soll. In Brüssel will man diese Argumentationslinie nicht akzeptieren, denn die EU hat dem Konzern im August 336 Mio. Euro als Vorschuss überwiesen – das Geld sollte laut der zuständigen EU-Kommissarin, Stella Kyriakides, zu einem Gutteil für ausreichende Produktionskapazitäten verwendet werden. Laut Vertrag hätte AstraZeneca bereits seit der verbindlichen Bestellung Ende Oktober Impfdosen für die EU vorproduzieren müssen. „Wir wollen nun wissen, wohin diese Dosen geliefert wurden“, so Kyriakides. Ratspräsident Charles Michel und Italien drohen mit Klagen. Am Montag verhandelten Kommission und Unternehmensvertreter über Auswege. AstraZeneca hat mittlerweile auch in anderen Teilen der Welt Lieferprobleme eingestanden.
3 Trägt Brüssel Mitverantwortung für die Schwierigkeiten? War man zu knausrig?
Jein. Eine direkte Verantwortung kann man der Brüsseler Behörde nicht in die Schuhe schieben. Allerdings spricht einiges dafür, dass sich die Kommission zu sehr auf den Faktor Geld konzentriert haben dürfte und den Faktor Verfügbarkeit vernachlässigte. So wurde in der im Juni beschlossenen Strategie zur Beschaffung der Vakzine hervorgehoben, dass sich durch das gemeinsame Vorgehen „die Kosten für alle Beteiligten verringern“. Dies war insoweit verständlich, als auch auf ärmere Mitgliedstaaten Rücksicht genommen werden musste. Zweites Indiz: Mit den Gesprächen zwischen EU und Pharmafirmen wurden nicht Gesundheitsexperten der Kommission betraut, sondern Sandra Gallina, die Nummer zwei in der für Freihandelsabkommen zuständigen Generaldirektion – eine harte Verhandlerin. Nach einem Bericht des Portals Politico hatte Gallinas Team den Auftrag erhalten, preisgünstige Konditionen herauszuschlagen.
4 Und war die EU wenigstens in der Preisfrage erfolgreich?
Definitiv. Zwar sind die Lieferverträge Verschlusssache, doch laut durchgesickerter Informationen zahlt die EU weniger für Impfstoffe als die vergleichbar großen Vereinigten Staaten. Die USA berappen für eine Dosis von Pfizer 15,6 Euro, die EU lediglich zwölf Euro (ohne Steuern). Eine Dosis von AstraZeneca soll gar nur 1,78 Euro für EU-Staaten kosten. Freilich: Während in den USA bereits sechs Impfdosen pro hundert Einwohner verabreicht wurden, sind es in der EU nicht einmal zwei. Zwar hängt das mit einer rascheren Notzulassung von Impfstoffen in den USA zusammen, doch wohl auch mit dem Preis. In einem Statement des Pharmakonzerns Pfizer heißt es, „die gestaffelte Preisformel basiert auf der Menge und den Auslieferdaten“. Was so viel heißt, dass auch das Lieferdatum Verhandlungssache war.
5 Die USA haben die Nase vorn: Was haben sie besser gemacht als die EU?
Sie haben von Anfang an mehr Geld in die Hand genommen. Im Rahmen der von Trump initiierten Operation „Warp Speed“wurden Pharmafirmen bei Forschung und Produktionskapazitäten großzügig unterstützt. So erhielt AstraZeneca bereits im Mai eine Zusage über 1,2 Mrd. Dollar, Moderna erhielt im April 483 Mio. und im Juli weitere 472 Mio. Dollar für klinische Studien. Auch Novavax, Johnson & Johnson sowie Regeneron wurden mit dreistelligen Millionenbeträgen für die Produktion bedacht.
6 Im Nachhinein ist es leicht, klug zu sein. Was hätte man denn anders machen können?
Erstens stärker in den Aufbau der Kapazitäten investieren. Zwar hat die EU für Vorauszahlungen 2,1 Mrd. Euro bereitgestellt, auch Deutschland nahm Geld in die Hand und unterstützte Biontech im September mit 375 Mio. Euro – doch in den USA war das Budget größer. Zweitens hätte die EU früher bestellen können. Während der Deal mit Pfizer/ Biontech erst im November finalisiert wurde, waren die USA bereits im Juli dran.