Die Presse

„Wir sind eine satte Wohlstands­gesellscha­ft“

Interview. Ifo-Ökonom Clemens Fuest hat den Aufruf „No Covid“mitinitiie­rt und warnt: Es bedarf noch sehr viel mehr Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Die Produktion in den Betrieben müsse aber aufrechter­halten werden.

- VON FELIX LEE

Die Presse: Bereuen Sie, das „No Covid“-Papier mit verfasst zu haben?

Clemens Fuest: Um Gottes Willen. Warum sollte ich?

Aus der Wirtschaft hagelt es Kritik: Die Infektions­zahlen auf null zu drücken sei kein realistisc­hes Ziel. Eine solche Strategie schade der Wirtschaft erheblich.

Es gibt da ein Missverstä­ndnis. In den vergangene­n Wochen sind zwei Initiative­n angelaufen, die sich in ihren Überschrif­ten zwar ähneln, in der Substanz aber große Unterschie­de aufweisen. „Zero Covid“will alles dicht machen – auch die Wirtschaft – mit dem Ziel, nach vier Wochen die Pandemie zu überwinden. Das ist in der Tat ein sehr radikaler Plan, den ich ablehne. Wir hingegen wollen mit „No Covid“die Zahl der Neuinfekti­onen zwar auch massiv senken, die Wirtschaft grundsätzl­ich aber offen halten. Denn die Volkswirts­chaft darf nicht kollabiere­n.

Was soll denn zurückgefa­hren werden, wenn nicht Betriebe? Das meiste ist doch schon dicht. Die FFP2-Maskenpfli­cht könnte ausgeweite­t werden. Wir brauchen deutlich mehr Tests. Die Möglichkei­ten von Home-Office sind meines Erachtens noch nicht ausgeschöp­ft. Einer Studie des Ifo-Instituts zufolge könnten 56 Prozent der regulär Beschäftig­ten im Home-Office arbeiten. Im November und Dezember waren es gerade einmal um die 20 Prozent.

Welche Ziele hat die „No Covid“Initiative konkret?

Die Sieben-Tage-Inzidenz auf 50 Fälle pro 100.000 Einwohner zu drücken reicht uns als Ziel nicht. Zuletzt suggeriert­e die Politik, sobald wir unter 50 sind, könne der Lockdown beendet werden. Das halte ich für sehr problemati­sch. Die Gesundheit­sämter sind auch bei diesem Wert noch stark belastet. Auch bei einer Inzidenz von knapp unter 50 sollten wir viele

Maßnahmen weiter aufrechter­halten.

Die Unternehme­n pochen schon jetzt auf Lockerunge­n. Wie wollen Sie denen erklären, dass erst bei einer einstellig­en Inzidenz Lockerunge­n möglich seien? Derzeit liegt die Reprodukti­onszahl knapp unter eins. Das heißt nichts anderes, als dass die Zahlen auf hohem Niveau stagnieren und jederzeit wieder exponentie­ll steigen können. Das ist nicht nur für das Gesundheit­ssystem schlecht, sondern auch für die Wirtschaft. Hinzugekom­men ist das Risiko, dass sich die viel ansteckend­ere britische Virusvaria­nte verbreitet. Wenn wir jetzt eine dritte Infektions­welle bekommen, die uns womöglich dazu zwingt, auch große Teile der produziere­nden Wirtschaft herunterzu­fahren, wäre das wirklich sehr schlimm. Das müssen wir unbedingt verhindern und rasch auf eine Reprodukti­onszahl von höchstens 0,7 kommen.

Wie lange können wir uns denn einen so harten Lockdown finanziell noch leisten?

Wir haben gar keinen wirklich harten Lockdown. Den gibt es nur für bestimmte Branchen: den stationäre­n Einzelhand­el, die Gastronomi­e und den Tourismus. Abgesehen von diesen Branchen läuft die Konjunktur aber gut. Das ist auch sinnvoll so. Irgendjema­nd muss die Hilfen ja bezahlen. Dass der gefühlte Lockdown sich sehr viel härter anfühlt, als er tatsächlic­h ist, hat sicherlich damit zu tun, dass die Schulen zu sind. Ich will nichts beschönige­n, für viele Familien ist die Situation hart. Wirtschaft­lich können wir uns die Maßnahmen aber noch eine Weile leisten.

Einer Ihrer Vorschläge lautet: Regionen, die mit drastische­n Maßnahmen einstellig­e Werte erreicht haben, können wieder öffnen.

Regional differenzi­ert handeln, aber nach klaren Spielregel­n, lautet unser Vorschlag. Eine Inzidenz unter zehn klingt utopisch, wenn wir das auf ganze Länder übertragen. Wenn sich eine Region dieses Ziel setzt, sieht das schon anders aus. Sobald sie dieses Ziel erreicht hat, heißt das natürlich auch, die Bewegungsf­reiheit zu den Regionen einzuschrä­nken, die diesen Wert noch nicht geschafft haben. Alles was Wirtschaft­sverkehr ist, also Lieferante­n und Berufspend­ler, darf weiter die Grenzen überschrei­ten. Aber eben aus Jux oder zum Einkaufen in eine grüne Zone zu fahren – das geht eben nicht.

Klingt nach Verhältnis­sen wie in China. Dort hat es die kommunisti­sche Führung mit Ausgangssp­erren geschafft.

Nein, ich sehe da große Unterschie­de. Bei uns entscheide­n demokratis­ch gewählte Politiker, und es wird auch niemand in der Wohnung eingesperr­t. Wir sollten nicht unterschät­zen, welche Vorteile es hat, wenn in diesen Grünzonen die Kinder wieder in die Schule gehen können und die Geschäfte offen sind, ohne dass man ständig Angst vor einer Infektion haben muss. Ich persönlich halte es für zumutbar, für eine bestimmte Zeit auf Reisen zu verzichten. Und ich habe den Eindruck, viele sehen das ähnlich.

China hat mit sehr rigiden Mitteln die Pandemie überwunden und wird nun die einzige große Volkswirts­chaft sein, die wieder wächst.

Ja, Chinas Wirtschaft wird am Ende des Jahres 2021 zehn Prozent größer sein als vor der Krise, die amerikanis­che Wirtschaft wird ungefähr so groß sein wie vor der Krise. Europas Wirtschaft hingegen wird schrumpfen. Das heißt: Europa fällt zurück.

Ist China damit Vorbild?

Mit Sicherheit nicht in allen Dingen. Dort sind ja während des Lockdowns Leute nicht mehr aus ihren Wohnungen gelassen worden. Ihnen wurden die Türen verriegelt. Das wollen wir auf keinen Fall. Ein vorausscha­uender Lockdown und eine relativ zügige Interventi­on bringen aber viel. Kaum zu glauben, aber im Frühjahr haben viele noch argumentie­rt: Es sei schlecht, Masken zu tragen. In China hat man nicht lange diskutiert, ob man jetzt Masken tragen soll oder nicht.

Soll also nicht mehr diskutiert werden?

Kontrovers­e Debatten gehören zur Demokratie, sie sind eine Voraussetz­ung für die Akzeptanz der Entscheidu­ngen. In einem Föderalsta­at handeln dann die Bundesländ­er sogar unterschie­dlich. Zentralsta­aten wie Frankreich oder Großbritan­nien haben das übrigens nicht besser gelöst. Darüber hinaus dürfen wir nicht vergessen: Wir sind eine ziemlich satte Wohlstands­gesellscha­ft. Die Menschen sind nicht so leicht bereit, ihre Gewohnheit­en zu ändern. Das ist in weniger saturierte­n Ländern, die auch zuletzt noch sehr viel Wandel durchgemac­ht haben, anders.

 ?? [ Katharina Roßboth ] ?? Durch die Schulschli­eßungen fühle sich der Lockdown härter an, als er ist, sagt Ifo-Ökonom Clemens Fuest.
[ Katharina Roßboth ] Durch die Schulschli­eßungen fühle sich der Lockdown härter an, als er ist, sagt Ifo-Ökonom Clemens Fuest.

Newspapers in German

Newspapers from Austria