Wahr ist nicht, was viele glauben
Buch. Der französische Physiker Etienne´ Klein stellt die Denkfehler unserer wissenschaftsfeindlichen Unkultur bloß.
Vor fast 280 Jahren schrieb der schottische Philosoph David Hume in seinen „Essays“etwas, das ihm heute auf Twitter oder Facebook einen handfesten Shitstorm einbrächte: „Die Wahrheit oder die Falschheit lässt sich nicht durch die verschiedenen Begriffe der Menschen ändern. Wenn gleich das ganze menschliche Geschlecht auf ewig ausmachte, dass die Sonne sich bewege, und die Erde ruhe, so weichet deswegen die Sonne keinen Zoll weit aus ihrem Orte; und dergleichen Schlüsse sind ewig falsch und irrig.“
Man soll über wissenschaftliche Wahrheiten nicht abstimmen dürfen? Wahr ist wahr, falsch ist falsch – egal, wie man es benennt? Hume wäre vermutlich erschüttert darüber, welches Schindluder die Menschheit heute mit diesen Grundsätzen der Aufklärung treiben. Man muss gar nicht an die unsäglichen „alternativen Fakten“denken, die Kellyanne Conway, eine Propagandistin des gewesenen US-Präsidenten Trump, im Jahr 2017 als Grundlage für dessen realitätsfremde Aussagen über die Größe der Menschenmenge bei seiner Angelobung vorbrachte. Nein, die wissenschaftsfeindliche Unkultur tanzt auch im harmlosen Kleid der Meinungsumfrage bei der Tür herein.
Das veranschaulicht der französische Physiker und Philosoph E´tienne Klein in einem Essay mit dem Titel „Le gouˆt du vrai“(2020, Gallimard) am folgenden Beispiel: Am 5. April vorigen Jahres, als noch keine Covid-19-Therapie auch nur ansatzweise das Ende ihrer Versuchsstadien erreicht hatte, aber das Malariamittel Hydroxychloroquin von einzelnen Forschern hypothetisch genannt wurde, veröffentlichte die Zeitung „Le Parisien“das Ergebnis einer Befragung von 1016 Personen ohne medizinische Fachkenntnis: „Wirkt dieses Medikament gegen das Coronavirus?“59 Prozent antworteten mit ja, 20 Prozent mit nein. „Die überwältigende Mehrheit bestätigte also, etwas zu wissen, was noch niemand wusste“, hält Klein fest. Umfragen dieser Art, kritisiert er, trügen nichts zum Erkenntnisgewinn bei. Im Gegenteil: Sie vernebeln die Dinge und verwirren die Geister.
Klein, der an der Entwicklung des Teilchenbeschleunigers am Cern beteiligt war, geht es mitnichten um eine Beschneidung der Freiheit, zu denken und zu glauben, was man will. Doch er prangert vier weit verbreitete Denkfehler an, die sich gegenseitig verstärken und unseren Umgang mit der Pandemie erschweren. Erstens „die Neigung, jenen Thesen mehr Glauben zu schenken, die uns gefallen, als jenen, die uns missfallen“. Das lasse uns unsere Sehnsüchte mit Realitäten verwechseln. Zweitens den „Guru-Effekt“, sprich: die Neigung, Aussagen von jenen, die wir für Autoritäten halten, für bare Münze zu nehmen. „Ipsedixitismus“nennt Klein das scherzhaft, abgeleitet davon, dass man nicht mehr diskutiert, was der Meister selbst gesagt hat (also „ipse dixit“, auf Latein). Drittens die Neigung, mit Überzeugung über Dinge zu reden, von denen man keine Ahnung hat. Viertens das Vertrauen, das man der eigenen Intuition schenkt, dem Hausverstand, und das einen zu Aussagen über wissenschaftliche Themen ermutigt, selbst wenn die Fakten dem entgegenstehen.
Gegen den Instinkt andenken
Letzterer Denkfehler plagt unseren Umgang mit der Pandemie besonders hartnäckig. Denn Wissenschaft zu betreiben, bedeutet in den Worten des Wissenschaftstheoretikers Gaston Bachelard, „gegen sein Gehirn zu denken“, also gegen eigene Vorurteile, Instinkte, spontane Urteile. Das Recht der Bürger, Fragen zu stellen, die Forscher und Regierenden zur Rechenschaft zu ziehen, sei zwar absolut, und ihnen müsse ehrlich geantwortet werden. „Aber eine Meinung zu haben, ist in keiner Weise dasselbe, wie die Richtigkeit oder Falschheit einer wissenschaftlichen Aussage zu kennen.“
Natürlich litten Wissenschaftler und Experten unter denselben Schwächen wie alle Menschen, betont Klein. Unfehlbar sind sie nicht, auch sie irren, wie wir in der Pandemie immer wieder sehen. Bloß, und darauf besteht Klein: „Die Wissenschaften schreiten durch die kollektive Organisation von wissenschaftlichen Kontroversen voran.“
Peer Review, Datentransparenz, offene Debatte: Damit können selbst ernannte Gurus wie der Tropenarzt Didier Raoult, der den Hype um das eingangs erwähnte Hydroxychloroquin entfachte, gar nicht gut umgehen. Denn die Wahrheit tut bisweilen weh, ihr Geschmack ist bitter. Das trieb schon Friedrich Nietzsche um, wie Klein zu denken gibt: „Das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrtum, die Fantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden“, warnte er in „Menschliches, Allzumenschliches“über „Die Zukunft der Wissenschaft“. Man möchte hoffen, dass so mancher heutige „Querdenker“oder „Corona-Skeptiker“den Geschmack der Wahrheit wiederfindet.