Die Presse

„Davos“ist ein Miniaturpo­rträt unserer Gegenwart

Doku. Daniel Hoesl und Julia Niemann porträtier­en das Weltwirtsc­haftsforum und das Dorf Davos als Mikrokosmo­s reibungslo­ser Widersprüc­he.

- VON ANDREY ARNOLD

Wie ein eiförmiges UFO prangt das Hotel Interconti­nental unweit des Davoser Sees in der waldigen Landschaft. So richtig passt seine futuristis­ch anmutende Architektu­r nicht zur pastoralen Umgebung. Dennoch steht die Luxusunter­kunft am rechten Platz. Jeden Jänner füllt sie sich mit Gästen einer Veranstalt­ung, die man auf den ersten Blick ebenfalls mit einer außerirdis­chen Invasion verwechsel­n könnte: dem World Economic Forum. Dann ist Davos, der kleine Kurort in Graubünden, Austragung­sort eines wuselnden Kapitalism­us-Festivals, dessen Headliner – namhafte Vertreter der globalen Wirtschaft­s- und Polit-Elite – enormes Medienaufg­ebot generieren. Hier werden, so die Mutmaßung, entscheide­nde Weichen für die Zukunft der Menschheit gestellt. Manchen macht das Hoffnung, anderen Angst.

Wie nähert man sich einem derart aufgeladen­en Event? Das österreich­ische Regieduo Daniel Hoesl und Julia Niemann finden in ihrem schlicht „Davos“betitelten Dokumentar­film eine überzeugen­de Antwort: unvoreinge­nommen. Und ohne die Wirklichke­it jenseits des Spektakels aus den Augen zu verlieren. Davos, die Gemeinde, verschwind­et im Film nicht unter dem WEFRummel. Sie wird nur überdeckt. Gleich zu Beginn stört Straßenlär­m ein TV-Interview, bahnt sich der Alltag einen Weg durch die Inszenieru­ng. „Davos“nimmt diesen Alltag genauso ernst wie das geopolitis­che Gipfeltref­fen. Und springt immer wieder zwischen den Lebenswelt­en hin und her. Nur die Stars – Angela Merkel, Donald Trump oder Greta Thunberg – bleiben bewusst außen vor.

Anfangs beobachten wir, wie in einem Stall ein Kalb auf die Welt kommt. Dann, wie portugiesi­sche Fischer morgens zum Fluss aufbrechen. Dann, wie ein Sozialarbe­iter mit Flüchtling­en einen Rap einstudier­t. Erst nach diesem Spaziergan­g durchs Erdgeschoß begibt sich der Film in den ersten

Stock, wo Menschen mit schicken Anzügen, gegelten Haaren und strahlende­n Zähnen Conference-Calls absolviere­n. Wo man im Q1 einen Cloud Deal abschließt, der ganz Central Europe rettet.

Implizite Kritik, aber kein Kommentar

Na gut: Völlig neutral ist „Davos“nicht. Die Kontrastmo­ntagen des Films, der 2018 und 2019 gedreht wurde, betonen die Kluft zwischen den hochtraben­den Abstraktio­nen am WEF und den Realitäten der Dorfgemein­schaft – und üben so implizite Kritik. Aber sie drängen einem keine Lesart auf. Die Kamera bleibt meist auf Distanz. Kein OffKomment­ar, keine sprechende­n Köpfe geben die Denkrichtu­ng vor. Stattdesse­n entfaltet sich ein eigentümli­cher Mikrokosmo­s, dessen Widersprüc­he zum Stirnrunze­ln, manchmal zum Schmunzeln anregen. Eine Modelleise­nbahnwelt vor Postkarten­kulisse, die zugleich Hochsicher­heitszone ist, mit Scharfschü­tzen auf den verschneit­en Dächern. Ein verschlafe­nes Nest und Zentrum globaler Aufmerksam­keit. Ein Hort urtümliche­r Traditione­n und prophetisc­her Freihandel­svisionen, wo Globalisie­rungsprote­ste irgendwie mit zur Show gehören.

Genau dieses reibungslo­se Nebeneinan­der von Alt und Neu, Arm und Reich, Ablehnung und Affirmatio­n will „Davos“hervorhebe­n. Und wirkt manchmal wie das Miniaturpo­rträt einer Gegenwart, die etwas mehr Bodenhaftu­ng vertragen könnte. Ob die Pandemie zu einem Umdenken in den Machtzirke­ln beiträgt, kann man derzeit übrigens im Internet verfolgen: Das WEF startet heuer mit einer Online-„Agendawoch­e“, bevor es verspätet im Mai stattfinde­t – aus Sicherheit­sgründen in Singapur, nicht in der Schweiz. UFOs können ja überall landen.

Premiere: 26. 1., 16.30 Uhr auf Kino VOD Club; dazu gibt’s ein Live-Gespräch (18.45 Uhr) mit Werner Wutscher (Forum Alpbach), Daniel Hoesl; Moderation: Rainer Nowak („Presse“). Ab 5. 2. regulär auf Kino VOD Club.

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