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Warum Virus-Sequenzier­ungen so wichtig sind

Pandemie. Das Zerlegen des Coronaviru­s in seine Einzelteil­e ist ein Schlüssel zur Beobachtun­g der Pandemie. Österreich befindet sich im Mittelfeld, holt aber auf.

- VON KÖKSAL BALTACI

Wien. Spätestens seit der Ausbreitun­g der deutlich ansteckend­eren britischen und südafrikan­ischen Variante in fast ganz Europa ist das sogenannte Sequenzier­en des Virus in den Fokus der Öffentlich­keit gerückt. Das Zerlegen des aus rund 30.000 Basen (Nukleotide­n) bestehende­n Genoms in seine Einzelteil­e, um relevante Veränderun­gen (Mutationen) festzustel­len und daraus Rückschlüs­se auf Infektions­wege zu ziehen, wird in den kommenden Wochen und Monaten weiter an Bedeutung gewinnen.

Mit Ländern wie etwa Island, Dänemark, Großbritan­nien, Australien und Neuseeland kann Österreich zwar nicht mithalten, ist aber im Europaverg­leich mittlerwei­le ganz gut aufgestell­t.

1 Wie viele Sequenzier­ungen fanden in Österreich bisher statt?

Österreich­weit wurden bisher 0,36 Prozent aller bestätigte­n Fälle in einem aufwendige­n, rund eine Woche dauernden Prozess sequenzier­t. Spitzenrei­ter in Europa sind Dänemark mit zwölf Prozent und Großbritan­nien mit 5,4 Prozent, die die Bedeutung von Virusanaly­sen früh erkannten und darin investiert­en; gefolgt von der Schweiz (1,1 Prozent), Niederland­e (0,6 Prozent) und Belgien (0,5 Prozent). Hinter Österreich liegen unter anderem Schweden (0,2 Prozent), Israel (0,1 Prozent), Frankreich (0,1 Prozent), Deutschlan­d (0,1 Prozent) und Italien (0,06 Prozent). Eine Ausnahme stellt Island dar, wo praktisch alle Proben der 6000 positiv Getesteten untersucht wurden (siehe Frage 3).

99 Prozent der Sequenzier­ungen in Österreich fanden unter der Leitung von Andreas Bergthaler und Christoph Bock im Forschungs­zentrum für Molekulare Medizin (CEMM) statt. Sie begannen bereits im März aus eigener Initiative damit, erste Genome auf Mutationen zu überprüfen – unterstütz­t von den Med-Unis Wien und Innsbruck, der Ages sowie weiteren Institutio­nen. In Summe wurden bisher 2000 Vollgenom-Sequenzier­ungen durchgefüh­rt, rund 1300 davon luden Bergthaler und sein Team in die internatio­nale Datenbank Gisaid hoch. Dem European Centre for Disease Control (ECDC) zufolge entspricht das 0,17 Prozent der Gisaid-Einträge, damit liegt Österreich (wie auch bei der Zahl der Sequenzier­ungen) im europäisch­en Mittelfeld. Künftig sollen – unterstütz­t durch das Gesundheit­sministeri­um – noch mehr, nämlich mindestens 400 Genome pro Woche sequenzier­t werden, was in Europa einen Platz im oberen Drittel bedeuten würde.

2 Welche Erkenntnis­se lassen sich durch Sequenzier­ungen gewinnen?

Derzeit dient das Sequenzier­en vor allem dem Zweck, die seit Kurzem auch in Österreich zirkuliere­nde britische sowie südafrikan­ische Variante zu entdecken und ihre Ausbreitun­g zu beobachten. Dauerhaft wichtiger ist aber die Möglichkei­t, damit Infektions­wege nachzuvoll­ziehen und Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie danach auszuricht­en. So wurde beispielsw­eise nachgewies­en, dass im Frühjahr Tausende Ansteckung­en in Europa auf Ischgl und das Paznauntal zurückzufü­hren waren. In Ischgl etwa kursierte eine dominante Variante, der zwischen 80 und 90 Prozent der Proben zugeordnet wurden. Im dortigen Cluster war nämlich eine Mutation mit der Bezeichnun­g „Clade 20C“sehr präsent, die bei Betroffene­n in Deutschlan­d, Dänemark, Norwegen und Island gefunden wurde. Das muss aber nicht bedeuten, dass diese Variante ihren Ursprung in Ischgl hatte. Denn interessan­terweise war sie im Frühjahr auch an der Ostküste der USA und vor allem in New York dominant. Wo die Variante entstand, ist unklar.

3 Warum ist ausgerechn­et Island Weltmeiste­r im Sequenzier­en?

Das ist dem Umstand zu verdanken, dass in Island bereits Ende der 1990er-Jahre das auf Genom-Sequenzier­ungen spezialisi­erte Unternehme­n Decode Genetics gegründet wurde, um vor fünf Jahren die weltweit größte genetische Studie einer Bevölkerun­g durchzufüh­ren und so neue Erkenntnis­se über Risikofakt­oren für Krebserkra­nkungen zu gewinnen. Nach Ausbruch der Pandemie konnten sich die Wissenscha­ftler also einer bestehende­n Infrastruk­tur bedienen und sofort in großem Stil beginnen.

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[ AFP/Halada ] In Österreich werden wöchentlic­h 400 Proben von Infizierte­n sequenzier­t.

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