Die große Gefahr eines Atomkrieges
Das Video eines Atombombeneinschlags des Außenministeriums sorgt für Entsetzen. Doch es zeigt eine Bedrohung, die durchaus real ist.
Zum Inkrafttreten des historischen Atomwaffenverbotsvertrages, den Österreich mit auf den Weg brachte, veröffentlichte das Außenministerium vergangenen Freitag ein Video, das auf drastische Art und Weise die Konsequenzen eines fiktiven Atombombenabwurfs auf Wien darstellte: Demnach würde der Abwurf einer 100-Kilotonnen-Atombombe augenblicklich zu 230.380 Toten und 504.460 Verletzten führen. Es gäbe eine radioaktive Aschewolke bis Graz, die Druckwelle wäre bis Hütteldorf spürbar. In einem Radius von 380 Metern würde alles zu Asche werden, Menschen würden verbrennen.
Das Video schlug ein wie eine Bombe. Einzelne Politiker wie der Wiener Bürgermeister, Michael Ludwig, zeigten sich entsetzt. SPÖ und Neos kündigten gar parlamentarische Anfragen an. Auch in sozialen Netzwerken waren viele Nutzer von den Bildern schockiert und warfen dem Außenministerium Angstmacherei vor, vor allem in Zeiten einer enorm belastenden Pandemie.
Auch wenn es verständlich ist, dass die Bilder der Vernichtung Wiens Angst machen, und viele Menschen derzeit von existenziellen Sorgen geplagt sind, bleibt das gezeigte Szenario doch eine reale Bedrohung, die der Öffentlichkeit kaum bewusst ist.
Die Gefahr eines Atomkrieges wird von den meisten Experten heute größer eingeschätzt als zur Zeit des Kalten Krieges. Anders als damals, als sich zwei Supermächte mit Atomwaffen gegenüberstanden und eine gewisse „strategische Stabilität“herrschte, besitzen heute neun Staaten insgesamt 13.400 Atomwaffen. In weiteren fünf europäischen Staaten sind Atomwaffen stationiert, etwa in Aviano, Italien, unweit der Kärntner Grenze. Die sogenannte Weltuntergangsuhr, die von Wissenschaftlern regelmäßig neu justiert wird, steht derzeit auf 100 Sekunden vor zwölf – so nah an der globalen Apokalypse wie noch nie.
Zudem warnen Experten seit Jahren davor, dass durch neue Waffensysteme wie HyperschallRaketen, die fünfmal schneller fliegen als der Schall, die Reaktionszeit auf einen potenziellen Atomschlag extrem verkürzt wird. Den Präsidenten in Washington und Moskau blieben dadurch nur wenige Minuten Zeit für eine Entscheidung.
Wissenschaftler der Princeton University simulierten ein Szenario, in dem eine einzige abgefeuerte Atomwaffe innerhalb von fünf Stunden zu 34 Millionen Toten führen könnte. Die Situation könnte durch Cyberangriffe auf nukleare Frühwarnsysteme noch verschärft werden.
Gerade die Lage um die russische Exklave Kaliningrad, umringt von den Nato-Staaten Polen und Litauen, ist spannungsgeladen. Russland und die Nato-Staaten rüsten seit geraumer Zeit auf und es finden dort häufig militärische Übungen statt, die das Risiko einer Kollision von Militärflugzeugen beider Seiten mit sich bringen. Ein derartiger Zwischenfall könnte möglicherweise bis zum Atomkrieg eskalieren. Gleichermaßen birgt der Kaschmirkonflikt zwischen den Atomstaaten Indien und Pakistan das Risiko eines Atomkrieges.
Österreich für Abrüstung
Wirklich problematisch ist die Tatsache, dass die Abrüstungsverträge, die die Rüstungsspirale und das Potenzial für einen Konflikt bislang unter Kontrolle hielten, fast alle aufgekündigt wurden.
Österreich setzt sich diplomatisch seit Jahren für Abrüstung und eine atomwaffenfreie Welt ein. Anstatt das Außenministerium für ein aufrüttelndes Video zu prügeln, wäre es besser, der realen Bedrohung durch Atomwaffen Platz im öffentlichen Diskurs zu geben und den österreichischen Diplomaten den Rücken zu stärken.
Stephanie Liechtenstein (* 1976) ist freie Journalistin in Wien. Von 2002 bis 2008 war sie Mitarbeiterin der OSZE.