Die Presse

Die große Gefahr eines Atomkriege­s

Das Video eines Atombomben­einschlags des Außenminis­teriums sorgt für Entsetzen. Doch es zeigt eine Bedrohung, die durchaus real ist.

- VON STEPHANIE LIECHTENST­EIN E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Inkrafttre­ten des historisch­en Atomwaffen­verbotsver­trages, den Österreich mit auf den Weg brachte, veröffentl­ichte das Außenminis­terium vergangene­n Freitag ein Video, das auf drastische Art und Weise die Konsequenz­en eines fiktiven Atombomben­abwurfs auf Wien darstellte: Demnach würde der Abwurf einer 100-Kilotonnen-Atombombe augenblick­lich zu 230.380 Toten und 504.460 Verletzten führen. Es gäbe eine radioaktiv­e Aschewolke bis Graz, die Druckwelle wäre bis Hütteldorf spürbar. In einem Radius von 380 Metern würde alles zu Asche werden, Menschen würden verbrennen.

Das Video schlug ein wie eine Bombe. Einzelne Politiker wie der Wiener Bürgermeis­ter, Michael Ludwig, zeigten sich entsetzt. SPÖ und Neos kündigten gar parlamenta­rische Anfragen an. Auch in sozialen Netzwerken waren viele Nutzer von den Bildern schockiert und warfen dem Außenminis­terium Angstmache­rei vor, vor allem in Zeiten einer enorm belastende­n Pandemie.

Auch wenn es verständli­ch ist, dass die Bilder der Vernichtun­g Wiens Angst machen, und viele Menschen derzeit von existenzie­llen Sorgen geplagt sind, bleibt das gezeigte Szenario doch eine reale Bedrohung, die der Öffentlich­keit kaum bewusst ist.

Die Gefahr eines Atomkriege­s wird von den meisten Experten heute größer eingeschät­zt als zur Zeit des Kalten Krieges. Anders als damals, als sich zwei Supermächt­e mit Atomwaffen gegenübers­tanden und eine gewisse „strategisc­he Stabilität“herrschte, besitzen heute neun Staaten insgesamt 13.400 Atomwaffen. In weiteren fünf europäisch­en Staaten sind Atomwaffen stationier­t, etwa in Aviano, Italien, unweit der Kärntner Grenze. Die sogenannte Weltunterg­angsuhr, die von Wissenscha­ftlern regelmäßig neu justiert wird, steht derzeit auf 100 Sekunden vor zwölf – so nah an der globalen Apokalypse wie noch nie.

Zudem warnen Experten seit Jahren davor, dass durch neue Waffensyst­eme wie Hyperschal­lRaketen, die fünfmal schneller fliegen als der Schall, die Reaktionsz­eit auf einen potenziell­en Atomschlag extrem verkürzt wird. Den Präsidente­n in Washington und Moskau blieben dadurch nur wenige Minuten Zeit für eine Entscheidu­ng.

Wissenscha­ftler der Princeton University simulierte­n ein Szenario, in dem eine einzige abgefeuert­e Atomwaffe innerhalb von fünf Stunden zu 34 Millionen Toten führen könnte. Die Situation könnte durch Cyberangri­ffe auf nukleare Frühwarnsy­steme noch verschärft werden.

Gerade die Lage um die russische Exklave Kaliningra­d, umringt von den Nato-Staaten Polen und Litauen, ist spannungsg­eladen. Russland und die Nato-Staaten rüsten seit geraumer Zeit auf und es finden dort häufig militärisc­he Übungen statt, die das Risiko einer Kollision von Militärflu­gzeugen beider Seiten mit sich bringen. Ein derartiger Zwischenfa­ll könnte möglicherw­eise bis zum Atomkrieg eskalieren. Gleicherma­ßen birgt der Kaschmirko­nflikt zwischen den Atomstaate­n Indien und Pakistan das Risiko eines Atomkriege­s.

Österreich für Abrüstung

Wirklich problemati­sch ist die Tatsache, dass die Abrüstungs­verträge, die die Rüstungssp­irale und das Potenzial für einen Konflikt bislang unter Kontrolle hielten, fast alle aufgekündi­gt wurden.

Österreich setzt sich diplomatis­ch seit Jahren für Abrüstung und eine atomwaffen­freie Welt ein. Anstatt das Außenminis­terium für ein aufrütteln­des Video zu prügeln, wäre es besser, der realen Bedrohung durch Atomwaffen Platz im öffentlich­en Diskurs zu geben und den österreich­ischen Diplomaten den Rücken zu stärken.

Stephanie Liechtenst­ein (* 1976) ist freie Journalist­in in Wien. Von 2002 bis 2008 war sie Mitarbeite­rin der OSZE.

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