Die Presse

In Österreich gilt „Integratio­n durch Herkunft“

Die Regierung zeigt unnötige Härte: Familien aus Georgien und Armenien droht die Abschiebun­g. Offenbar wird nachgeholt, was durch Covid gebremst wurde.

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Drei rote Herzen schickte die zwölfjähri­ge Tina ihren Freunden in der WhatsApp-Gruppe. Das war das Letzte, was sie alle von ihr hörten. Die Gymnasiast­in wurde am Montag gemeinsam mit ihrer Mutter und fünfjährig­en Schwester von der Fremdenpol­izei abgeholt. Am Donnerstag sollen sie nach Georgien abgeschobe­n werden, die Asylverfah­ren wurden rechtskräf­tig negativ beurteilt. Tina und ihre Schwester sind in Österreich geboren.

Einige Kilometer weiter westlich, in der Wienerwald­gemeinde Eichgraben, ein ähnlicher Fall: Eine alleinerzi­ehende Mutter kam mit ihren drei Kindern 2015 aus Georgien nach Österreich. Die Kinder besuchen Schule und Kindergart­en, sprechen, wie Tina und ihre Schwester, perfekt Deutsch, sind bestens integriert. Doch auch deren Asylverfah­ren wurden in letzter Instanz rechtskräf­tig negativ beurteilt. Diese Woche versuchte die Fremdenpol­izei, sie abzuholen, doch die Familie war nicht zu Hause.

In Wien Favoriten starteten die Mitschüler von Sona eine Onlinekamp­agne. Die Oberstufen­schülerin, seit sieben Jahren in Österreich, soll noch diese Woche mit ihrer Familie nach Armenien abgeschobe­n werden. Seit Montagaben­d haben ihre Freunde nichts von ihr gehört.

Zwar wurden 2020 wegen Covid keine Abschiebun­gen „grundsätzl­ich“ausgesetzt, wie Innenminis­ter Karl Nehammer (VP) in einer parlamenta­rischen Anfragebea­ntwortung mitteilt. Doch praktisch gingen sie zurück. Von Mitte März bis Anfang November fanden 16 Charterflü­ge nicht statt, und auch die Zahl der insgesamt Abgeschobe­nen ist mit Stand Anfang November deutlich niedriger als im Vorjahr. Nun scheint man zu versuchen, das aufzuholen – und reißt Kinder aus ihrem vertrauten Umfeld. Noch dazu mitten in einer Pandemie. Die Coronakris­e erschütter­t das Vertrauen in staatliche Institutio­nen. Die – notwendige­rweise – oft wechselnde­n Vorschrift­en, die intranspar­ente Datenlage, die unbeholfen­e Kommunikat­ion. Man könnte nun argumentie­ren, der Staat zeigt, dass die Regeln weiterhin gelten. Eine gute Sache, theoretisc­h. Doch hier übertreibt der Staat in seiner Härte maßlos – und richtet damit langfristi­gen Schaden an. Es sind längst nicht nur die Kinderabsc­hiebungen. In griechisch­en und bosnischen Lagern leben Menschen unter unwürdigen Bedingunge­n, dicht gedrängt, kursiert die Krätze, denken Kinder an Suizid. Doch die ÖVP sperrt sich weiterhin gegen die Aufnahme von Menschen in Österreich. Die zugespitzt­e Lage an den Außengrenz­en könnte die EU destabilis­ieren.

Es wird nicht gehandelt, stattdesse­n wiederholt sich in Österreich die Geschichte. Die aktuellen Fälle erinnern an Arigona Zogaj, jene damals 14-jährige Schülerin, die 2007 untertauch­te, um ihrer drohenden Abschiebun­g in den Kosovo zu entgehen. Sie entfachte eine Debatte: Muss man hier ein Exempel statuieren, zeigen, dass das Asylrecht wirklich nur für jene gilt, die vor Krieg und Verfolgung fliehen? Oder wiegt die Tatsache, dass Zogaj in ihrer oberösterr­eichischen Gemeinde integriert ist, mehr? Wie bei den aktuellen Fällen ist das eine Scheindeba­tte: Denn das Gesetz sieht genau für jene Situatione­n das humanitäre Bleiberech­t vor. Dies kann gewährt werden, wenn es wie bei Armenien und Georgien um sichere Herkunftsl­änder geht, die Personen lange im Land sind, weil sich Asylverfah­ren in die Länge zogen, und deshalb wenig Bezug zum Heimatland besteht. Auch Integratio­n spielt eine Rolle.

Der harsche Umgang mit Menschen wie Tina, Sona und Arigona führt wohl kaum dazu, dass sich andere abschrecke­n lassen, in Österreich Asyl zu beantragen. Die Zahl der Asylanträg­e bleibt konstant: 12.558 waren es bis inklusive November im Vorjahr, 12.886 im gesamten Jahr 2020. Im Gegenteil, solche brutalen Aktionen zeigen, dass Integratio­n für die Regierung nur eine hohle Phrase zu sein scheint. Statt „Integratio­n durch Leistung“heißt es „Integratio­n durch Herkunft.“Diese Botschaft richtet sich indirekt auch an all jene, die zwischen den Kulturen zu Hause sind: „Es zählt, wo du herkommst, und nicht, wie du dich verhältst.“

Zur Autorin:

Anna Goldenberg ist Journalist­in und Autorin („Versteckte Jahre. Der Mann, der meinen Großvater rettete“, 2018, Paul Zsolnay) und lebt in Wien. Sie schreibt über Medien und Politik für den „Falter“.

Morgen in „Quergeschr­ieben“: Christian Ortner

Man könnte nun argumentie­ren, der Staat zeigt, dass die Regeln weiterhin gelten. Eine gute Sache, theoretisc­h.

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VON ANNA GOLDENBERG

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