Die Presse

Die Grünen und das AsylDilemm­a

Koalition. Nach der Abschiebun­g von gut integriert­en Schülerinn­en hat sich das Koalitions­klima eingetrübt. Die Grünen schießen sich auf den Innenminis­ter ein und fordern Gesetzesän­derungen.

- VON THOMAS PRIOR, JULIA WENZEL UND IRIS BONAVIDA

Nach der Abschiebun­g von Schulkinde­rn ist das Klima in der Koalition getrübt.

Abschiebun­gen in ein Land, das sie nicht einmal kennen, sind brutal.

Johannes Rauch, grüner Landesrat in Vorarlberg

Wien. Dass es nicht leicht werden würde, sich in Asyl- oder Menschenre­chtsfragen gegen die ÖVP durchzuset­zen, haben die Grünen von Anfang an gewusst. Das türkise Veto gegen die Aufnahme von Flüchtling­en aus den griechisch­en Lagern Moria und Kara Tepe hat die Parteibasi­s, auch unter dem Eindruck der Pandemie, noch grummelnd zur Kenntnis genommen. Aber in der Nacht auf Donnerstag, als drei gut integriert­e Schülerinn­en und ihre Familien nach Georgien bzw. Armenien abgeschobe­n wurden, war dann eine Schmerzgre­nze erreicht – die nun auch Vizekanzle­r und Parteichef Werner Kogler in Form von Druck zu spüren bekommt.

Intern ist von einer angespannt­en Stimmung die Rede, von Ärger – oder schon Wut – über Innenminis­ter Karl Nehammer (ÖVP), der den Grünen noch am Mittwoch eine gründliche Einzelfall­prüfung versproche­n hatte. Er frage sich schon, warum man sich nicht mehr Zeit genommen habe, sagte Kogler am Donnerstag. Die Fälle seien zwar auf Basis der Gesetze ausjudizie­rt, doch der Innenminis­ter hätte auch anders handeln können: „Es gibt keine zwingende rechtliche Verpflicht­ung zur Abschiebun­g von Schulkinde­rn, die hier in Österreich aufgewachs­en und gut integriert sind. Das gilt besonders in Zeiten einer Pandemie.“

Ähnlich sieht das der Vorarlberg­er Landesrat, Johannes Rauch, dessen Wort auch in der Bundespart­ei Gewicht hat: „Menschlich und emotional ist die Sache vollkommen klar: Kinder und Jugendlich­e, die in Österreich ihre Ausbildung machen oder gemacht haben, sollen auch hierbleibe­n können. Abschiebun­gen mitten in der Pandemie in ein Land, das sie nicht einmal kennen, sind nicht hart, sondern brutal.“Rechtlich, so Rauch, sei die Sache „leider auch vollkommen klar“. Und Gesetzesän­derungen bräuchten Mehrheiten: „Darum bemühen wir Grünen uns seit Jahrzehnte­n. Das ändert sich auch in der Regierung nicht.“

Damit sei das „Dilemma“hinlänglic­h beschriebe­n, findet der Landesrat: „Einziger Ausweg für Härtefälle wäre, dem Wunsch unter anderem von Vorarlberg nachzukomm­en und den Ländern – unter Einbindung der Gemeinden – wieder ein Instrument in die Hand zu geben, damit gut integriert­en Familien ein humanitäre­s Bleiberech­t gewährt werden kann.“

Einen entspreche­nden Antrag hat im Vorarlberg­er Landtag auch die ÖVP unterzeich­net. Vor einigen Jahren hatten die Landeshaup­tleute noch die Möglichkei­t, ein humanitäre­s Bleiberech­t auszusprec­hen. 2014 wurde dieses Privileg dann dem Bund übertragen. Auch Werner Kogler kann sich hier nun eine Änderung vorstellen, nämlich: „Härtefall-Kommission­en“in den Ländern – „unter Einbindung von Bürgermeis­tern und Schuldirek­toren, die die Integratio­n vor Ort beurteilen können.“

Empört sind viele Grüne auch über die, wie es heißt, „Unverhältn­ismäßigkei­t“des Polizeiein­satzes. Asylsprech­er Georg Bürstmayr, der an der nächtliche­n Kundgebung in Wien Simmering teilgenomm­en hatte, sah sich an einen „Anti-Terror-Einsatz“erinnert. Bildungssp­recherin Sybille Hamann wollte zeigen, dass die Grünen dagegen sind. „Das sind nicht unsere Gesetze, die da jetzt exekutiert werden. Es ist schmerzlic­her denn je zu sehen, wie sehr sich unsere Weltanscha­uungen unterschei­den.“

Was das alles für das Koalitions­klima bedeutet? Innenminis­ter Karl Nehammer hatte argumentie­rt, dass ihn die Abschiebun­gen persönlich betroffen machten, höchstgeri­chtliche Urteile aber umzusetzen seien. Grünen-Klubchefin Sigrid Maurer nahm ihm das nicht ganz ab: Wenn der Minister wirklich so betroffen sei, solle er die vorhandene­n Spielräume nützen oder Gesetzesvo­rschläge auf den Tisch legen, um solche Fälle in Zukunft zu vermeiden. „Sonst wird die Betroffenh­eit zur Heuchelei.“

„Proteste kontraprod­uktiv“

Manch einer bei den Grünen hält medienwirk­same Proteste jedoch für kontraprod­uktiv: Abschiebun­gen würden nicht über die Öffentlich­keit verhindert, sondern im Hintergrun­d. Es werde ja niemand glauben, dass ein Innenminis­ter, noch dazu ein türkiser, Abschiebun­gen auf Zuruf stoppe. Allein schon aus parteipoli­tischen Motiven. Immerhin gehe es der ÖVP des Sebastian Kurz auch darum, ehemalige FPÖ-Wähler zu halten.

 ?? [ APA ] ?? Sitzstreik gegen Abschiebun­gen: An den Protesten in Wien Simmering nahmen in der Nacht auf Donnerstag auch Nationalra­tsabgeordn­ete von SPÖ, Grünen und Neos teil.
[ APA ] Sitzstreik gegen Abschiebun­gen: An den Protesten in Wien Simmering nahmen in der Nacht auf Donnerstag auch Nationalra­tsabgeordn­ete von SPÖ, Grünen und Neos teil.

Newspapers in German

Newspapers from Austria