So herrlich verrückt sind Sprachen
Linguistik. Was bringen 200 Wörter, die sich auf Kamele beziehen? 100 Formen, „ich“zu sagen? 15 Deklinationen? Und verdient auch das Deutsche ein Kapitel in „Die seltsamsten Sprachen der Welt“, dem neuen Buch von Harald Haarmann?
Linguistik: Ein neues Buch widmet sich den „seltsamsten Sprachen der Welt“.
Tiere könnten sich ja so leicht global verständigen! Überall auf der Welt miauen Katzen, grunzen Schweine, blöken Schafe, krächzen Krähen. Wir Menschen hingegen schlagen uns mit 7000 Sprachen herum. Ächz! Aber wenn wir uns schon auf sonst nichts einigen können: Wären nicht lautmalerische Ausdrücke von „miauen“bis „ächz“gute Kandidaten? Denn unsere Homo-sapiens-Ohren hören ja alle gleich, und ein Hund macht nun einmal „Wauwau“. Oder nicht? Nebenan in Frankreich macht er „toutou“, und schon den französischen Säuglingen erscheint das völlig plausibel, wie wir ihrem fröhlichen Gebrabbel entnehmen können. So schnell passt sich also die Artikulation an die Strukturen einer Sprache an, der wir von Kind an lauschen – auch wenn sie für ausgewachsene Fremde ein Rätsel bleiben.
„Die seltsamsten Sprachen der Welt“bekommen wir nun von Harald Haarmann serviert. Der hoch anerkannte Linguist will aber kein „Kuriositätenkabinett“ausstellen. Er lädt dazu ein, die Vielfalt als Reichtum zu sehen, auch als persönliche Bereicherung, weil sie uns die Welt anders verstehen lässt. Das gelingt ihm mit seinem Buch. Aber, wir wollen nicht verhehlen: Kurios ist es doch.
Lange Wörter oder viele Tonhöhen
Wie auch unser eigenes Idiom: In einer Rangliste der merkwürdigsten Sprachen reihten US-Forscher das Deutsche unter die Top Ten. Ach ja, diese Schachtelsätze! Die durch lange Einschübe getrennten Verbteile! Und die Wortungetüme! – bei denen uns aber eine Eskimo-Sprache übertrifft: In Yupik verkettet sich etwa die Bemerkung „Er hatte noch nicht wieder gesagt, dass er Rentiere jagen würde“zur ausufernden Buchstabenfolge „tuntussurqatarniksaitengqiggtuq“.
Ein Wort statt elf, das ist sparsam, könnte man wohlwollend werten. Konträr dazu ist die Sprachökonomie der Chinesen, deren Wörter nur aus einer Silbe bestehen. Dafür differenzieren sie nach vier Tonhöhen, und die Vietnamesen sogar nach sechs – mit dem Erfolg, dass etwa die Silbe „mai“in Hanoi ganz Disparates bedeuten kann: „morgen“,
„schleifen“, „Dach“, „Handel“, „sich bemühen“oder „immer“. Wer da beim Intonieren nicht höllisch achtgibt, muss sich auf allerlei Missverständnisse gefasst machen.
Heroischen Verzicht übten auch die Sprecher des (ausgestorbenen) Ubychischen im Kaukasus. Sie beschränkten sich auf zwei Vokale, was sie durch rekordverdächtige 80 Konsonanten ausglichen – allein das uns so facettenarm erscheinende „q“brachte es auf acht Qualitäten. Unsere Urahnen kannten wohl andere Formen, durch Laute Sinn zu vermitteln. Das zeigt sich im südlichen Afrika, der Wiege der Menschheit: An den Klickund Schnalzlauten der dortigen Buschmänner scheiterten die Zungen vieler Missionare. Sie schnippten stattdessen mit den Fingern, um ihr Bekehrungswerk voranzutreiben.
Stärker hoffen wir, unseren Horizont durch differenziertes Vokabular zu erweitern. Populär ist ja die Vorstellung, die Inuit in Grönland könnten ihr Gespür für Schnee in hundert Ausdrücke fassen. Es gibt davon aber nicht mehr als im Englischen, wie man längst erforscht hat. Enttäuscht? Laut Haarmann folgte man einer falschen Fährte: Für die früheren Robbenjäger war nicht der Schnee relevant, sondern die Tragfähigkeit des Eises – und der Schatz an Worten dafür ist verschollen. Fündig wurde man aber bei den Rentierzüchtern in Lappland, die immerhin 20 Schnee-Varianten benennen.
Doch das beeindruckt uns kaum, wenn wir von den über 200 Ausdrücken hören, mit denen sich Somalier auf ihre Kamele beziehen. Ein „gurgurshaa“macht eben als „ruhiges, zahmes Kamel, das als Lasttier dient“weniger Kummer als ein „balaf“, ein „Kamel, das sich weigert zu trinken“. Mögen sich in dieser Kamelwelt auch verwirrend viele Vokabeln tummeln, an Sprechzeit spart man sich dort einiges. Wie umständlich umschreiben wir „die Distanz, die zwischen dem Auf- und Abladen eines Kamels überwunden wird“– auf Somali sagt man einfach „minqaad“, und jeder weiß Bescheid.
Zu mehr Tiefsinn verleitet uns, dass die Khmer in Kambodscha hundert Arten kennen, „ich“zu sagen. Das Ich wechselt dort ständig seine Identität, je nach der sozialen Konstellation, in der es sich gerade befindet. So etwas könnte uns Demut lehren!
Die Russen müssen nichts haben
Zu denken geben aber auch scheinbare Defizite. Was hat es zu bedeuten, dass die Russen auf das Verb „haben“pfeifen? „Ich habe ein Buch“lässt sich im Russischen nur mit „Bei mir ist ein Buch“umschreiben. Ist man dort weniger besitzergreifend? Konnte deshalb dort der Kommunismus zuerst Fuß fassen? Die Augenbrauen ziehen wir mit Haarmann hoch, wenn es um das reduzierte Pidgin-Deutsch von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund geht: Ihr Basiswortschatz – rund 300 Worte – wird „mit hoher Frequenz verwendet, auf Kosten von Varianz und Nuancierung“. Auch auf Kosten der Artikel: „Gemma Lugner!“Und, dort angekommen: „Ey, voll krass, Alter, die Tusse hat voll geile Titten!“
Nein, so derb wollen wir nicht schließen. Wir staunen lieber über die 15 Deklinationen im Finnischen. Oder lernen von der ausgesuchten Höflichkeit der Japaner, die im formellen Umgang fast jedes Wort durch ein Suffix verschönern – mit einer Respektsperson trinkt man keinen „cha“(Tee), sondern einen „o-cha“. Und wir lassen uns gern das Vorurteil austreiben, die Amerikaner seien weniger manierlich als die Briten: Sie sagen zwar nur halb so oft „please“, aber doppelt so oft „thanks“. In diesem Sinne: Wir haben Sie nicht gebeten, diesen Artikel zu lesen. Aber wir danken für die Aufmerksamkeit.
Buch: „Die seltsamsten Sprachen der Welt“von Harald Haarmann, 207 Seiten, C.H. Beck, Euro 18,50