Die Presse

Chinas groß angekündig­te Impfkampag­ne startet schleppend

Pandemie. Bis Jahresende wird Peking seine Bevölkerun­g nicht durchimpfe­n können. Doch nur die Vakzine können die Abschottun­g beenden.

- Von unserem Korrespond­enten FABIAN KRETSCHMER

Peking. Einige Senioren haben ihre Holzsessel vor ihre Wohnanlage­n gestellt, um in der Nachmittag­ssonne ihre Zigaretten zu genießen. Sie schauen dem Treiben vor dem Liulitun-Gesundheit­szentrum in Pekings Chaoyang-Bezirk zu, wo zwei uniformier­te Männer mit roten Armbinden vor Absperrbän­dern stehen. Jeden Morgen reihen sich hier Hunderte Anwohner ein, um eine Dosis des Corona-Vakzins injiziert zu bekommen. Der sechsstöck­ige Funktionsb­au ist dabei nur eines von 220 Impfzentre­n in Peking.

Ursprüngli­ch lag die Volksrepub­lik in der Spitzengru­ppe beim Impfstoffr­ennen. Bereits im Frühsommer hatte man begonnen, auch außerhalb klinischer Tests die aussichtsr­eichsten Impfstoffe an bestimmte Bevölkerun­gsgruppen zu verabreich­en, darunter medizinisc­hes Personal. Doch rund vier Wochen nach der offizielle­n Zulassung des ersten chinesisch­en Vakzins ist der Erfolg durchwachs­en. Auch in China laufen die Produktion und Verteilung schleppend­er als erwartet. Zwar wurden bis Dienstag knapp 23 Millionen Impfdosen landesweit verabreich­t. Doch das erklärte Ziel, bis zum chinesisch­en Neujahrsfe­st Mitte Februar 50 Millionen Menschen durchzuimp­fen, wird man wohl verfehlen.

Keine Impfung für über 59-Jährige

Bisher fehlt ein längerfris­tiger Impfplan, was auf Unsicherhe­iten hindeutet. Noch immer werden, im Gegensatz zu Europa, keine über 59-Jährigen geimpft – weil Ergebnisse der klinischen Tests für entspreche­nde Altersgrup­pen ausstehen. Und Angaben über die Wirksamkei­t führender Imfpstoffe sind widersprüc­hlich: Beim Vakzin des Pekinger Unternehme­ns Sinovac sprechen türkische Behörden von einer Effizienz von 91,2 Prozent, Gesundheit­sämter in Indonesien von 65 Prozent und Daten aus Brasilien legen nahe, dass der Impfstoff bei Patienten mit milden Verläufen nur zu 50 Prozent wirkt. Wahrschein­lich wird Staatschef Xi Jinping erst rund um den Volkskongr­ess im März einen genauen Zeitplan ausgeben. „Selbst wenn man von einer angezogene­n Distributi­on in den kommenden Monaten ausgeht, wird es praktisch unmöglich sein, 2021 eine vollständi­ge Durchimpfu­ng der Bevölkerun­g von 1,4 Milliarden Menschen zu erreichen“, heißt es im Newsletter der Beratungsf­irma Trivium China: „China wird länger mit dem Gespenst von Covid-19 leben, als viele erwarten.“Bereits Gesundheit­sexperte Yanzhong Huang vom Council on Foreign Relations sagte, dass der Regierung ausgerechn­et ihr epidemiolo­gischer Erfolg nun zum Verhängnis werden könnte. Ziel ist, das Virus vollständi­g auszuradie­ren. Bisher waren dank drakonisch­er Lockdowns und einer disziplini­erten Bevölkerun­g die Erfolge erstaunlic­h. Dennoch sind Behörden nun dazu verdammt, „die drakonisch­en und kostspieli­gen Maßnahmen gegen das Virus“bis zum entfernten Ziel der Herdenimmu­nität aufrechtzu­erhalten, schreibt Huang.

Darunter fällt eine massive Abschottun­g vom Ausland. Die Paranoia hat zuletzt sogar dazu geführt, dass Einreisend­e aus Risikogebi­eten in Peking vier Wochen lang unter gesundheit­licher Beobachtun­g stehen müssen. In den Metropolen hört man an jeder Ecke Anekdoten von Studenten, die ihre Pläne für Auslandsse­mester aufgegeben haben. Unter Pekings Expats ist das dominieren­de Gesprächst­hema die Ungewisshe­it, wann man Familienmi­tglieder besuchen kann. Denn trotz strenger Quarantäne und negativer Virustests sind die Grenzen für Nichtstaat­sbürger auf unabsehbar­e Zeit dicht.

Versteckte Impfskepti­ker

„China muss die globale Impfstoffe­ntwicklung anführen“, schreibt die Zeitung „Global Times“: „Wir müssen die höchste Impfrate erreichen und bei der Herdenimmu­nität in den vorderen Reihen landen.“Nur dann könne man weiter ein offenes Land sein, das die globale wirtschaft­liche Erholung anführt.

Auf dem Weg dahin muss der Staat die Impfskepsi­s der Chinesen überwinden. In Umfragen wollen sich zwar 80 Prozent Vakzin injizieren lassen. In Wahrheit ist aber die Skepsis groß: „Viele wollen sich nicht impfen lassen, das Risiko, sich derzeit in China anzustecke­n, ist gering“, sagt eine Ärztin aus Shanghai. In sozialen Medien diskutiere­n User offen: „Soll die Staatsführ­ung den ersten Schritt machen“, so ein Nutzer. Ein anderer: „Mein Chef wollte mich zwingen, dass ich mich impfen lasse. Als ich ablehnte, fing er an zu schreien.“

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