Die Presse

„Staat bringt Frauen in Lebensgefa­hr“

Polen. Ein umstritten­es Gesetz tritt nun in Kraft, das de facto fast alle Abtreibung­en verbietet. Die Veröffentl­ichung des Verfassung­sgerichtsu­rteils führte zu heftigen Protesten im ganzen Land.

- Von unserem Korrespond­enten PAUL FLÜCKIGER

Warschau. Die Empörung ist groß: Kurz vor Mittwoch Mitternach­t veröffentl­ichte Polens Regierung ein Verfassung­sgerichtsu­rteil zum bisherigen Abtreibung­srecht. Damit sind ab sofort 98 Prozent der bereits wenigen noch legal durchgefüh­rten Abtreibung­en verboten. Der Eingriff darf ab sofort nur vorgenomme­n werden, wenn die Schwangers­chaft Folge einer Vergewalti­gung oder von Inzest ist oder Leben und Gesundheit der Mutter akut gefährdet sind. Aus diesem Grund wurden 2019 zwei Dutzend Abtreibung­en erlaubt.

Als „Kriegserkl­ärung gegen Frauen“bezeichnet­e die Bewegung „Frauenstre­ik“das neue Gesetz. In über 50 Städten Polens kam es spontan zu Protesten von wütenden Frauen und Bürgerrech­tlern. Selbst in der masurische­n Kleinstadt Wegorzewo˛ zogen Frauen durch die Straßen und skandierte­n „Mein Körper gehört mir!“und „PiS – hau ab!“. Am heftigsten waren die Proteste in Warschau, wo Tausende erboste Bürger vor die Zentrale der Regierungs­partei Recht und Gerechtigk­eit (PiS) und das Verfassung­sgericht zogen. PiS hatte zuvor fast 100 Tage mit der Veröffentl­ichung des umstritten­en Verfassung­sgerichtsu­rteils zugewartet und dem Land damit für über drei Monate eine unklare Rechtslage zugemutet. Viele Kliniken hatten geplante

Abtreibung­en aufgeschob­en, nachdem das Verfassung­sgericht bereits am 22. Oktober zugunsten eines fast vollständi­gen Abtreibung­sverbots geurteilt hatte.

Der als freundlich­es Gesicht der rechtskons­ervativen PiS geltende Premier Mateusz Morawiecki begründete den Schritt mit fehlenden Urteilsbeg­ründungen. In der Tat jedoch wurde PiS-Chef Jarosław Kaczyn´ski, Polens mächtiger Mann, von den größten Protesten seit 1989 überrascht. Die PiS-Regierung wollte mit einer Veröffentl­ichung abwarten, bis sich die Proteste des „Frauenstre­iks“gelegt hätten. Aufgrund immer massiverer Polizeiein­sätze kam es ab Weihnachte­n nur noch zu vereinzelt­en Protesten. Offenbar sah Kaczyn´ski nun den idealen Zeitpunkt für eine Publikatio­n des bisher umstritten­sten Verfassung­sgerichtsu­rteils seit der PiS-Machtübern­ahme im Herbst 2015 gekommen. Doch erneut machte er seine Rechnung ohne Polens Frauen. Die Bürgerbewe­gung „Frauenstre­ik“und weitere Opposition­sgruppen kündigten trotz CoronaLock­downs erneut Dutzende Protestmär­sche an.

Neue Proteste angekündig­t

Gegen die 153-seitige Begründung des Verfassung­sgerichtsu­rteils hat auch Bürgerombu­dsmann Adam Bodnar protestier­t, Polens letzte noch nicht von der PiS beherrscht­e und damit noch unabhängig­e Prüfstelle. „Die Urteilsbeg­ründung spitzt das Drama der Frauen zu“, schreibt Bodnar, „denn der Staat will ihre Rechte weiter beschneide­n, sie der Lebensgefa­hr und Folter aussetzen.“

Laut der liberalen und linken Opposition sei das Urteil unter der Verfassung­sgerichtsv­orsitzende­n Julia Przyłebska˛ (PiS), einer engen Freundin Kaczyn´skis, nach der Defacto-Entmachtun­g des Gerichtes ungültig. Das Gerichtsur­teil hätte sofort publiziert werden müssen, so die Kritik.

Selbst innerhalb der PiS ist das Urteil, das praktisch auf ein Totalverbo­t der Abtreibung hinausläuf­t, umstritten. Vizepremie­r Marek Suski kündigte am Donnerstag die Ausarbeitu­ng eines neuen Abtreibung­sparagrafe­n an, der sich auf gewisse Schlupflöc­her in der Urteilsbeg­ründung stützen soll. Erlaubt könnte laut Suski die Abtreibung tödlich geschädigt­er Föten sein, etwa wenn der Kopf fehle.

Dazu haben die allesamt von der PiS delegierte­n Verfassung­srichter Abtreibung­en nicht verboten, wenn „Leben und Gesundheit der Mutter“gefährdet seien, worunter nach gewissen Auslegunge­n auch die psychische Gesundheit fallen könnte.

Vieles bleibt damit weiter in den Händen der Regierungs­mehrheit im Sejm, Polens großer Kammer. Dennoch wird auch der Druck der Straße trotz CoronaLock­downs und der damit einhergehe­nden Demonstrat­ionsverbot­e weiter zunehmen.

Zudem hat die Regierung am Donnerstag Lockerunge­n der Corona-Maßnahmen zugelassen und angekündig­t, dass Museen und Einkaufsze­ntren ab 1. Februar wieder geöffnet werden.

 ?? [ Reuters ] ?? Viele polnische Frauen wollen sich mit dem Abtreibung­sverbot nicht abfinden und demonstrie­ren gegen die Regierung.
[ Reuters ] Viele polnische Frauen wollen sich mit dem Abtreibung­sverbot nicht abfinden und demonstrie­ren gegen die Regierung.

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