Infektiologe fordert Strategiewechsel
Pandemie. Günter Weiss von der Med-Uni Innsbruck spricht sich für baldige Lockerungen des Lockdowns aus, um „die erschöpfte und perspektivlose Bevölkerung wieder ins Boot zu holen“.
Wien. Die Pannen und Verzögerungen bei den Impfungen, die wiederholte Verlängerung des Lockdowns sowie die anhaltende Perspektivlosigkeit hätten dazu geführt, dass sich „immer mehr Menschen von den Maßnahmen zur Kontaktreduktion verabschiedet haben“, sagt Günter Weiss, Direktor der Klinik für Innere Medizin der Medizinischen Universität Innsbruck und Mitglied im Beraterstab der Corona-Taskforce des Gesundheitsministeriums.
Der Infektiologe berät auch den Tiroler Landeshauptmann, Günther Platter (ÖVP), der Mitte der Woche von einem beginnenden Kippen der Stimmung in der Bevölkerung sprach. Eine „Erschöpfung“in weiten Teilen der Gesellschaft ortet auch Weiss, weswegen er eine Abkehr von der, wie er sagt, „eindimensionalen Strategie“des Krisenstabs fordert.
Anstatt ausschließlich auf die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der in den vergangenen sieben Tagen registrierten Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, zu schielen und zu versuchen, sie unter 50 (derzeit liegt sie österreichweit bei 115, mit teilweise deutlichen regionalen Unterschieden) zu drücken, sollte „ein Mittelweg angestrebt werden“– in Form von ersten Lockerungen ab 8. Februar.
„Wichtiges Signal an Menschen“
Infrage komme etwa die Öffnung der Schulen und Kindergärten, des Handels sowie der körpernahen Dienstleistungen wie Friseure. Diese Entscheidung könne „ein wichtiges Signal“an die Bevölkerung sein, um zu demonstrieren, dass die schrittweise Rückkehr zur Normalität und zu mehr Lebensqualität möglich ist, sofern die zuletzt verschärften Regeln und Empfehlungen wie das Tragen von FFP2Masken und Halten von mindestens zwei Metern Abstand auch konsequent eingehalten werden.
Am Lockdown festzuhalten, bis eine Sieben-Tage-Inzidenz von höchstens 50 erreicht wird, hält Weiss nicht für zielführend, weil zu viele Menschen nicht mehr bereit seien, diese Strategie mit einem schwer erreichbaren Ziel mitzutragen. „Die Stimmung könnte tatsächlich kippen, wie man an den Protesten in den Niederlanden gesehen hat“, sagt der Infektiologe. „Zudem bahnt sich so etwas wie ein Generationenkonflikt an. Junge Leute fragen sich, wie lang sie noch auf ihre Jugend verzichten sollen, um ältere und vulnerable Personengruppen zu schützen.“
Nicht zuletzt nehme auch das Unverständnis über die aktuell geltenden Regeln zu. „Niemand versteht, warum lange Schlangen an der Kassa im Lebensmittelhandel und in Drogeriemärkten erlaubt sind, in Bekleidungsgeschäften hingegen nicht“, sagt Weiss. „Daher halte ich erste Öffnungsschritte – selbstverständlich unter Berücksichtigung der jeweiligen Sicherheitskonzepte und genauer Beobachtung der Infektionszahlen – für die sinnvollere Maßnahme als die alternativlose Verlängerung des Lockdowns.“Die sogenannte Zero-Covid-Strategie, also das Drücken der Neuinfektionen in Richtung null, wie sie von manchen Epidemiologen gefordert wird, hält er ohnehin für ein „realitätsfernes Wunschdenken“, das nur von „Theoretikern“stammen könne.
Dass sich die Zahlen seit Mitte Dezember nicht mehr nennenswert ändern, sei ein eindeutiges Zeichen dafür, dass ein großer Teil der Bevölkerung nicht mehr bereit sei, soziale Kontakte weitgehend zu meiden. Das müsse nicht immer mit Vorsatz geschehen, aber der Wunsch nach Normalität und dem Ende des ständigen Verzichts sei einfach zu groß. Daher hält Weiss auch nichts von einer
Schließung der Skilifte. Er bezweifle nämlich, dass Ansteckungen beim Skifahren einen relevanten Beitrag zur Pandemie leisten würden. Ein paar Freiheiten müssten der Bevölkerung gelassen werden, um sich etwas abzulenken.
„Skifahren ist kein Luxus“
„Die ganze Zeit zu Hause zu sitzen wie im ersten Lockdown im März funktioniert nicht mehr“, so Weiss. „Wir müssen uns fragen, wie wir die Menschen wieder zurück ins Boot holen.“Das Skifahren zu untersagen, weil es durch Meldungen wie vereinzelte lange Schlangen vor Liften und feiernde ausländische Gruppen in „Misskredit geraten“sei und eine Neiddebatte („Skifahren ist ein Freizeitvergnügen, kein Luxus“) ausgelöst habe, ist seiner Einschätzung nach kontraproduktiv. „Wir verbieten ja auch nicht das Autofahren, nur weil sich manche Fahrer nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen halten, sondern bestrafen diejenigen, die das nicht tun.“