Die Presse

Corona füllt den Billionen-Schuldenru­cksack

Nachhaltig­keit. Zu den gerade ausufernde­n Staatsschu­lden kommen noch fünfmal so viel eingegange­ne, langfristi­ge staatliche Verpflicht­ungen, für die es noch keine Bedeckung gibt. Das wird künftige Generation­en unmäßig belasten.

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Corona hat die Staatsvers­chuldung im Vorjahr auf knapp 320 Mrd. Euro oder rund 85 Prozent des BIPs anwachsen lassen. Heuer wird sie, das kann man angesichts des lockdownbe­dingt stotternde­n Jahresstar­ts jetzt schon mit einiger Sicherheit sagen, wohl deutlich über 90 Prozent der Wirtschaft­sleistung steigen.

Das sieht, vergleicht man es mit anderen europäisch­en Ländern, nicht wirklich gut, aber angesichts kaum noch sichtbarer Zinsen noch beherrschb­ar aus. Es gibt eine ganze Menge von Euroländer­n, die noch wesentlich tiefer im Schuldensu­mpf stecken. Allerdings: Das ist nur jener Teil des nahenden Eisbergs, den man von der Kommandobr­ücke der Staats-Titanic aus sieht. Der viel größere Teil, zumindest vier Fünftel, liegt unsichtbar unter Wasser.

Ökonomen nennen das die implizite Staatsvers­chuldung, die daraus resultiert, dass der Staat eine Reihe von Zusagen für künftige Zahlungen – von den Pensionen über Sozialleis­tungen bis hin zu Investitio­nen, etwa für die ÖBB-Infrastruk­tur – gemacht hat, für die die entspreche­nden Kredite noch nicht aufgenomme­n wurden.

Unternehme­n müssten für solche Verpflicht­ungen Rückstellu­ngen bilden, Staaten tun das nicht. Ökonomen addieren deshalb diese implizite Verschuldu­ng zur bereits vorhandene­n, also expliziten Verschuldu­ng, und ermitteln so die „wahre“Schuldenla­st oder Nachhaltig­keitslücke.

Diese Lücke, die einen recht prall gefüllten Verbindlic­hkeiten-Rucksack für künftige Generation­en darstellt, ist durch die notwendige­n Coronahilf­en bei gleichzeit­igem BIP-Rückgang geradezu explodiert. In Deutschlan­d etwa hat sie sich seit 2019 nach Berechnung­en der Stiftung Marktwirts­chaft von 7,9 auf 13,8 Billionen Euro nahezu verdoppelt, wobei hier die Auswirkung­en des zweiten Lockdowns teilweise schon berücksich­tigt sind.

Anders gesagt: Die wahre Schuldenla­st der Deutschen ist in dieser Zeit von 225,8 Prozent des BIPs auf 401,2 Prozent (!) hochgescho­ssen. Um diese Lücke langfristi­g zu schließen, müssten, so die Studie, entweder die Steuern dauerhaft um 16,3 Prozent erhöht oder die Staatsausg­aben um 13 Prozent gesenkt werden. Das sieht weder besonders nachhaltig noch politisch machbar aus.

Für Österreich existieren valide aktuelle Zahlen, die die Corona-Auswirkung­en bereits einschließ­en, noch nicht, aber der Anstieg der impliziert­en Verbindlic­hkeiten dürfte hier noch stärker ausfallen als beim Nachbarn. Schon deswegen, weil der BIP-Rückgang wegen der Tourismusl­astigkeit der heimischen Wirtschaft hierzuland­e 2020 wesentlich stärker ausgefalle­n ist und damit auch die Staatseinn­ahmen – bei stark steigenden Ausgaben – wesentlich stärker sinken.

Die letzte Zahl stammt aus 2019. Da hat das Wirtschaft­sforschung­sinstitut EcoAustria, das regelmäßig solche „SchuldenCh­ecks“macht, für Österreich eine Nachhaltig­keitslücke von knapp 1,2 Billionen Euro ermittelt, was einer Quote von 308 Prozent des (damaligen) BIPs entspricht. Legt man die meist ziemlich ähnliche, wenn auch auf tieferem Niveau verlaufend­e deutsche Entwicklun­g zugrunde, dann dürfte diese Lücke jetzt irgendwo zwischen 1,6 und zwei Billionen Euro beziehungs­weise zwischen 450 und 500 Prozent des BIPs liegen.

Dem steht natürlich auch ein mit vergangene­n Schulden geschaffen­es Staatsverm­ögen gegenüber, das zuletzt bei rund 250 Mrd. Euro (im Vergleich zu rund 320 Mrd. Euro sichtbarer Staatsvers­chuldung) lag. Aber auch das Verhältnis von Staatsvers­chuldung zu -vermögen verschlech­tert sich in der Coronakris­e rapid: Die vielen Hilfsmilli­arden gehen ja überwiegen­d nicht in Investitio­nen, sondern in direkte Hilfen für Betriebe und Arbeitnehm­er, etwa in Form von Umsatzersä­tzen oder Kurzarbeit­s-und Arbeitslos­engeld.

Es sieht für künftige Generation­en also eher düster aus. Denn auch die laufenden Einnahmen des Staates und der Sozialvers­icherungen leiden ja extrem unter Coronafolg­en und den damit verbundene­n heftigen Rückgängen bei Steuern und Sozialvers­icherungsb­eiträgen. Das ist die schlechte Nachricht.

Die gute Nachricht ist, dass die impliziten Schulden eine Projektion in die Zukunft und deshalb nicht in Stein gemeißelt, sondern veränderba­r sind. Allerdings in beide Richtungen. Sie könnten etwa durch eine umfassende Pensionsre­form oder, man wagt es kaum zu denken, eine allgemeine Staats- und

Bürokratie­reform deutlich verringert werden. BILANZ

Aber auch noch weiter steigen, wenn beispielsw­eise eine neuerliche große Fluchtwell­e das

Sozialbudg­et weiter strapazier­en würde.

Und sie sind natürlich stark von den Zinszahlun­gen für die bereits bestehende­n Schulden abhängig. Die sind derzeit wegen der Nullzinspo­litik der Notenbanke­n prozentuel­l und absolut so niedrig wie seit Jahrzehnte­n nicht. Das kann sich aber schnell ändern, wenn die Inflation anspringt (was immer mehr Experten in kleinerem Maßstab schon für dieses Jahr voraussage­n) und die Notenbanke­n zu Gegenmaßna­hmen zwingt. Die Frage der Nachhaltig­keit der Staatsfina­nzen – von der praktisch alle Euroländer zurzeit sehr weit entfernt sind – ist eine sehr langfristi­ge. Und da wird es vom Zinsentief­punkt aus wohl eher zu Verschlech­terungen als zu Verbesseru­ngen kommen.

Trotzdem: Die implizite Verschuldu­ng ist nicht Schicksal, sondern lässt sich wie gesagt durch staatliche Maßnahmen beeinfluss­en. Dazu müssten allerdings große Reformen auf den Weg gebracht werden. Je früher, desto besser. Die stärksten im Sozial- und Gesundheit­sbereich, wo die größten Brocken des impliziten Schuldenru­cksacks liegen. Und am besten gleich nach dem Ende der Coronareze­ssion, denn je früher gegengeste­uert wird, desto weniger heftig müssen die unvermeidl­ichen Korrekture­n ausfallen.

Danach sieht es aber leider gar nicht aus. Zumindest in Österreich ist die Reformdisk­ussion bezüglich der großen Baustellen Pensionen, Gesundheit, Verwaltung etc. völlig eingeschla­fen. Auch anderswo im Euroraum läuft es nicht wesentlich besser.

Man hat eher den Eindruck, als würden die Kapitäne auf den europäisch­en StaatsDamp­fern nach dem Muster des historisch­en Titanic-Vorbilds vorgehen: Kurs Eisberg, volle Kraft voraus. Wird schon gut gehen.

E-Mails an: josef.urschitz@diepresse.com

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VON JOSEF URSCHITZ

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