Her mit einer Wahrheitskommission, die Schuldige benennt
Impfdebakel: Selten zuvor in der jüngeren Geschichte Europas hat eine relativ kleine Gruppe von Personen so existenzielle Entscheidungen so vergurkt.
Heute wissen wir, dass es die Stunde einer lahmen Bürokratie und des pathetischen europäischen Gedönses war.
Eine kleine Presseschau, aus gegebenem Anlass: „Das europäische Impfdebakel . . . Die EU wird keine Chance haben, bis zum Sommer mit Ländern wie den USA, Großbritannien oder Israel gleichzuziehen“(„Presse“).
„EU fällt im Impfrennen weiter zurück“(„FAZ“).
„Ein aktuelles Datenblatt aus dem Krisenstab der Regierung zeigt, dass selbst Experten nicht wissen, wer aus welcher Altersgruppe schon geimpft ist“(„Kurier“).
„Die österreichische Impfstrategie – eine reine Impfshow“. Die Vorgangsweise der Regierung – stümperhaft“(„Presse“).
Auch bei den Nachbarn: „Die Kanzlerin und Jens Spahn müssten sagen: Sorry Leute, wir haben es vermasselt“(„Focus“).
„Kein Impfstoff unter dieser Nummer!“(„Bild“).
Berichte in dieser Tonalität sind seit Beginn der Corona-Impfkampagne zahlreicher verfügbar als Impfdosen. Und zwar leider zu Recht. Dass die Verantwortlichen in Berlin, Wien oder Brüssel in diesen Tagen ihren Job auch nur annähernd so erledigen, wie das notwendig wäre, behaupten nicht einmal mehr gnadenlose Optimisten. Und wenn stimmt, was der Chef des AstraZeneca-Konzerns neuerdings behauptet, dass nämlich die EU mit dem Lieferanten ursprünglich nur eine Art Verwendungszusage ohne Rechtskraft auf frühzeitige Impfstofflieferungen ausverhandelt hat, dann besteht dort wirklich gröberer Erklärungsbedarf.
„Das ist die Stunde Europas“, hat EUKommissionspräsidentin Ursula von der Leyen noch im Mai 2020 mit Blick auf den gemeinsamen Kampf gegen die Seuche erklärt – heute wissen wir, dass es vor allem die Stunde einer lahmen Bürokratie, einer dysfunktionalen Medizin-Planwirtschaft und des pathetischen europäischen Gedönses war. Viel spricht aus heutiger Sicht dafür, dass der deutsche Ökonom Hans-Werner Sinn recht behalten wird: „Die Grundsatzentscheidung, den Erwerb der Impfstoffe der EU-Kommission zu überlassen, war falsch.“
Wahr ist leider: Die haben das ganz gehörig vermasselt, auf nationaler wie auf europäischer Ebene, und den Preis dafür wird die Bevölkerung zu entrichten haben, und zwar in Form von Tausenden Menschenleben und einem schweren wirtschaftlichen Schaden – alles durch effizientere Impfpolitik vermeidbar. Höchst unbefriedigend ist freilich, dass all jene Verantwortungsträger, die da Mist gebaut haben, völlig unbehelligt bleiben werden, in rechtlicher, finanzieller und sogar in Reputationshinsicht.
Dabei ist die Zahl der staatlichen Entscheider überschaubar: ressortzuständige nationale Minister plus eine Handvoll Spitzenbürokraten, die Verantwortlichen in der EU-Kommission und die dortigen Beamten der gehobenen Etagen, das ist es im Großen und Ganzen, ein paar hundert Leute vielleicht, alle mit Namen und Anschrift bekannt. Egal, wie viele Menschenleben und Steuermilliarden deren Fehler kosten werden: Sie alle werden um keinen Euro weniger verdienen, geringere Pensionen beziehen oder ihre Jobs verlieren. Nichts, Nüsse, Nada.
Selten zuvor in der jüngeren Geschichte Europas hat eine überschaubare Gruppe von Personen so existenzielle Entscheidungen fehlerbehaftet getroffen, ohne dafür im Geringsten belangt werden zu können.
Dass viel Verantwortung in dieser Causa nach Brüssel delegiert worden ist, stellt sich für alle Verantwortungsträger als Glücksfall heraus, denn dort bestehen ausreichend Endlager, in denen sie jahrzehntelang abklingen kann, bis alle Entscheider von heute in Pension oder auf dem Friedhof sind.
Das Mindeste, was demnächst fällig wird: eine Art „Wahrheitskommission“wie sie Südafrika nach dem Ende des Apartheidregimes installiert hat, auf europäischer wie auf nationaler Ebene, die niemanden bestraft, aber zumindest öffentlich macht, wer wann welche Entscheidung falsch getroffen hat. Dass wir in einem Land leben, in dem jeder für etwas zuständig, aber keiner für etwas verantwortlich ist, ist keine für das Impfdebakel akzeptable Erklärung.
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Zum Autor: Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet „ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.
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