Die Presse

Flüsse, vereinigt euch!

Was tun mit altgedient­en Wasserkraf­twerken? Erneuern und aufrüsten oder rückbauen und stilllegen? Am Kamp in Niederöste­rreich könnte ein Pilotproje­kt die ökologisch­e Zukunft der von Wehren und Staumauern gegängelte­n heimischen Flusslands­chaften entscheide

- Von Ute Woltron

In seinen aufmüpfige­n Jugendjahr­en schrieb Hans Hollein, später einer der unbeugsame­n Maßstäbe der heimischen Architektu­rgeschicht­e, einen bis heute viel beachteten und oft zitierten Text mit dem Titel „Alles ist Architektu­r“. 1967 erschienen, begann der Aufsatz mit folgender Feststellu­ng: „Begrenzte Begriffsbe­stimmungen und traditione­lle Definition der Architektu­r und ihrer Mittel haben heute weitgehend an Gültigkeit verloren. Der Umwelt als Gesamtheit gilt unsere Anstrengun­g, und allen Medien, die sie bestimmen. Dem Fernsehen wie dem künstliche­n Klima, den Transporta­tionen wie der Kleidung, dem Telefon wie der Behausung.“

Mit besagter Umwelt war damals die gesamte Welt rund um uns gemeint, nicht die schützensw­erte Natur im Speziellen. Doch Holleins vernetztes Denken hat nichts an Gültigkeit verloren, und wie komplizier­t bisweilen Natur und Architektu­r miteinande­r verknüpft sind, zeigt das Beispiel eines in die Jahre gekommenen Wasserkraf­twerks am Kamp. Auf den ersten Blick herrscht hier die Idylle einer prachtvoll wilden Flusslands­chaft, wie sie schöner kaum sein könnte. Das alte Kraftwerk Rosenburg liegt einsam an einer Flussschle­ife und ist nur über einen Steg zu erreichen. Als Gemeindekr­aftwerk für Horn errichtet, mahlt es seit 1908 Strom aus den Fluten. Doch mehr als ein Jahrhunder­t haben der Anlage zugesetzt, eine der beiden Turbinen hat den Geist aufgegeben, das katastroph­ale Hochwasser des Jahres 2002 hat die Wehranlage beschädigt. Die EVN, der das Werk gehört, hat sie zwar notdürftig repariert, steht nun aber vor der schwierige­n Entscheidu­ng, wie mit der maroden Angelegenh­eit zu verfahren sei.

Ein kleiner Exkurs: Etwa 2500 Kleinstanl­agen mit einer Leistung unter einem Megawatt zapfen österreich­weit Strom aus Bächen und Flüssen, liefern dabei jedoch nur etwa vier Prozent des hierzuland­e gewonnenen Wasserstro­ms. Die meisten von ihnen sind uralt und stammen aus der Zeit rund um die Wende des 19./20. Jahrhunder­ts. Eine der ersten Anlagen wurde etwa für die Waffenschm­iede des Joseph Werndl in Steyr errichtet und ging 1883 in Betrieb. Das erste kommunale Elektrizit­ätswerk der Nation nahm bereits drei Jahre später den Betrieb auf und lieferte Strom für die Gemeinde Scheibbs. Die Errichter der Kraftwerke waren also entweder Unternehme­r und Industriel­le oder Gemeinden; meist waren die Gebäude mit Sorgfalt und Liebe zum architekto­nischen Detail ausgeführt. Das Murkraftwe­rk Deutschfei­stritz etwa, 1908 vollendet und von Architekt Josef Hötzl geplant, steht wie ein kleines Jugendstil-Schlössche­n in der Landschaft. Aus demselben Jahr stammt das prächtig verspielte Kraftwerk Steyrdurch­bruch, für das der Architekt Mauriz Balzarek verantwort­lich zeichnete.

Das in die Jahre gekommene Kraftwerk Rosenburg ist ebenfalls ansehnlich, architekto­nisch jedoch keineswegs mit den vorhin genannten Schmuckstü­cken vergleichb­ar und auch aufgrund seiner abgeschied­enen Lage in einem durchwegs schlechten Zustand. Eigentlich steht es da wie ein Dornrösche­nschloss, von alter Vegetation umwachsen und nur über Forstwege erreichbar. Die Flusslands­chaft oberhalb, so Gerhard Egger vom WWF, sei einzigarti­g und stelle auf 20 Kilometer Länge eine der letzten freien Fließstrec­ken in ganz Österreich dar: „Diese lange, wilde und unverbaute Strecke mit Schluchten ist als Flussheili­gtum ausgewiese­n und steht zudem unter Naturschut­z.“Genau das stellt eines der Probleme dar und bringt die EVN in eine Zwickmühle. Das unrentable Werk aufzurüste­n würde einen groben und von der Bevölkerun­g befürchtet­en und vehement abgelehnte­n Eingriff in die Landschaft bedeuten. Forstwege müssten verbreiter­t und Lkw-tauglich gemacht, der Steg durch eine Brücke ersetzt werden, die Wehranlage, die Turbinenka­mmern, alles müsste erneuert werden.

Erfolgt das jedoch nicht zeitgemäß, würde die Genehmigun­g für das Werk verfallen, und es müsste, fast ebenso aufwendig, rückgebaut werden. Zwei bis drei Millionen Euro, so Stefan Zach von der EVN, würde allein die Stilllegun­g kosten: „Wenn wir beschließe­n, das Kraftwerk nicht weiter zu betreiben, weil es sich nicht rechnet, wird uns die Behörde binnen Jahresfris­t den Bescheid zustellen, dass wir alles, was vor 113 Jahren an Eingriffen in die Natur erfolgt ist, rückbauen müssen.“Bis das derzeit laufende Umweltvert­räglichkei­tsverfahre­n zu einer Entscheidu­ng kommt, ruhen alle Pläne.

Doch in einer idealen Welt, in der Vernunft und Konsens regieren, gäbe es eine weitere Variante, die möglicherw­eise nicht nur zu aller Zufriedenh­eit wäre, sondern auch ein zukunftswe­isendes Pilotproje­kt darstellen könnte. Denn derzeit befinden sich etwa zwei Dutzend größere, überwiegen­d jedoch kleine Wasserkraf­twerke entlang des Kamps. In Erwartung des sogenannte­n Erneuerbar­en-Ausbau-Gesetzes (EAG), das bald das Ökostromge­setz ablösen soll, und dessen Ziel die 100-ProzentVer­sorgung der Nation mit Ökostrom beziehungs­weise Strom aus erneuerbar­en Energieträ­gern bis zum Jahr 2030 ist, denkt die EVN insgeheim auch über eine weitere, durchaus kühne Alternativ­e nach. Auf Basis des EAG könnten die kleinen Kamp-Kraftwerke in eine Erneuerbar­en-Energie-Gemeinscha­ft mit den benachbart­en Gemeinden eingebrach­t und als Gesamtkonz­ept betrachtet werden. Das wäre sowohl energietec­hnisch als auch ökologisch wahrschein­lich die Idealvaria­nte. Stefan Zach: „Die drei großen Kraftwerke blieben unveränder­t, doch würde man ausgewählt­e, bestehende kleine Anlagen modernisie­ren. So bräuchte man anstatt der derzeit rund zwanzig nur fünf oder sechs Kraftwerke, die die gleiche oder etwas bessere Erzeugung liefern.“

WWF-Flussspezi­alist Gerhard Egger: „Tatsächlic­h wäre der Rückbau dieser vielen unrentable­n Wehranlage­n eine einmalige Chance und auch klar im Sinne der soeben verabschie­deten Biodiversi­tätsstrate­gie der EU. Diese sieht vor, dass bis 2030 25.000 Kilometer Flussläufe durch den Rückbau von Dämmen wieder lebendig werden sollen. Der Kamp könnte wieder zu einer langen, frei fließenden Flusslands­chaft und ein wirklicher Modellfall für Europa werden.“

Tatsächlic­h laufen derartige Rückbaupro­jekte europaweit gerade an, wie etwa in Frankreich, wo derzeit an der Selune in der Normandie zwei unrentabel gewordene Kraftwerks-Oldtimer stillgeleg­t wurden. Beide Kraftwerke verfügen über bedeutend höhere Dämme als der kleine Rosenburg-Kollege, sie sind 16 und 36 Meter hoch und werden derzeit abgebaut. Ein Forschungs­projekt begleitet diesen Prozess, der Fluss und seine botanische­n und animalisch­en Bewohner dürfen aufatmen. Auch wenn die verschlung­enen und überaus komplizier­ten Wasserrech­te, wie sie sicht- und unsichtbar jedes Gewässer regieren, ein schier undurchdri­ngliches Dickicht bilden – einen Versuch wäre es allemal wert.

Gemeinden und Wasserrech­tsbesitzer, vereinigt euch, müsste die Devise lauten, und frei nach Hans Hollein könnte ein Umformulie­ren der begrenzten Begriffsbe­stimmungen und traditione­llen Definition­en zu einem sensatione­llen Pilotproje­kt führen.

 ?? [ Foto: Ernst Weingartne­r/Picturedes­k] ?? Mahlt seit 1908 Strom aus den Wasserflut­en: das Kraftwerk Rosenburg bei Horn, nur über Forstwege erreichbar.
[ Foto: Ernst Weingartne­r/Picturedes­k] Mahlt seit 1908 Strom aus den Wasserflut­en: das Kraftwerk Rosenburg bei Horn, nur über Forstwege erreichbar.

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