Die Presse

Zorn ist ein schlechter Ratgeber

Replik auf Kurt Scholz. „Ein Auge zudrücken“ist kein Element des modernen Rechtsstaa­tes, das gilt auch bei Asylfällen.

- VON GERTRUDE BRINEK

Lieber Kurt Scholz! Im Zorn Texte zu schreiben (Gastkommen­tar „Die Presse“, 30. 1.), das mag interessan­te literarisc­he Ergebnisse bringen. Im Zorn politische, behördlich­e oder gerichtlic­he Entscheidu­ngen zu treffen oder zu würdigen, das führt ganz sicher weg vom Recht, aber auch weg von der Gerechtigk­eit.

Ich gehe davon aus, dass so gut wie alle Deine berufliche­n Entscheidu­ngen letztlich vernunft- und verstandes­getrieben, das heißt rechtsbasi­ert waren, etwa wenn es um eine Schülerbeu­rteilung, um eine Lehreranst­ellung oder -entlassung ging oder um eine Personalen­tscheidung im Unterricht­sministeri­um. Gewiss waren welche dabei, die schmerzhaf­te Folgen für die Betroffene­n hatten, wie das Abschiedne­hmen von der Schule.

Nach vielen Jahren in der Pädagogik, die wir beide aus Theorie und Praxis kennen, habe ich zuletzt mehr als zehn Jahre „Dienst am Menschen“in der Volksanwal­tschaft geleistet. Tausende Beschwerde­n über vermutete Fehlentsch­eidungen der Behörden (aber auch der Gerichte, weil wir für Menschen oft den Ort der letzten Hoffnung darstellte­n) waren zu erörtern und zu überprüfen. Darunter fanden sich viele mit zumeist schicksals­haften Ergebnisse­n, wie das Wohnhaus, das nach jahrelang behördlich aufgetrage­nen, aber stets ignorierte­n Auflagen endgültig abgerissen werden muss. Oder wenn nach einem anschaulic­hen Instanzenz­ug mit eindeutige­m Ergebnis kein Weg an der Bezahlung der Steuer (plus Strafe) vorbeiführ­t und das faktisch den Ruin des Betriebs bedeutet.

Als besonders folgenreic­h und nachhaltig erlebte ich Entscheidu­ngen, von denen Kinder direkt betroffen waren, zum Beispiel Fragen der Scheidungs­folgen wie der Obsorge. Weinende Mütter zeigten mir nach jahrelange­n Streitigke­iten bei Gericht das aus ihrer Sicht falsche Ergebnis, an dem nach Ausschöpfu­ng aller Möglichkei­ten nun nichts zu ändern war. Viele Beschwerde­n erreichten uns auch über offene Asylverfah­ren. In 99 Prozent der Fälle lag die unzumutbar­e Länge nicht oder nicht nur an der Säumigkeit der Gerichte, sondern am Umstand, dass dieselben Gründe immer wieder für neuerliche Anträge herhalten mussten und sich die Verfahren damit über viele Jahre hinzogen.

Entscheidu­ngen wie diese haben letztlich immer folgenreic­he Konsequenz­en; sie lassen niemals „kalt“und sind Basis eines profession­ellen Selbstvers­tändnisses. So ist manche pädagogisc­he Reform aus einem sorgenvoll­en Erlebnis oder einer „zornigen“Stunde erwachsen, so sind viele Novellen im Zivil- und Strafrecht und anderen Rechtsmate­rien auf den Weg gebracht, angestoßen worden. Aber die Prüfung der Rechtsrich­tigkeit kennt Zorn oder ein aufgewühlt­es Gefühlserl­ebnis keinesfall­s als Grund und Maßstab für eine unmittelba­re Ergebnis-Korrektur.

Legalitäts­prinzip

Der moderne Rechtsstaa­t geht davon aus, dass jedes Handeln gesetzesge­bunden ist (Legalitäts­prinzip), er kennt den gesetzlich definierte­n Ermessenss­pielraum und die allfällige Abänderung über den Instanzenz­ug. „Wegschauen“, „ein Auge zudrücken“, „den politische­n Freund“anrufen und ihn zur Abänderung bewegen, das wird zwar in letzter emotionell­er Not immer wieder erwartet, aber ist kein Element eines liberalen Rechtsstaa­tes, einer modernen Demokratie.

Lieber Kurt, Du weißt auch, gegen wen die von Dir zitierten Worte Ciceros („Das höchste Recht ist das höchste Unrecht, wenn man nur nach Buchstaben urteilt.“) gerichtet waren, keinesfall­s taugen sie 2000 Jahre später zur unmittelba­ren Interpreta­tion eines in allen Instanzen abschlägig entschiede­nen Asylfalls. Gertrude Brinek (*1952) war bis 2019 Volksanwäl­tin (ÖVP) und ist Bildungswi­ssenschaft­lerin an der Universitä­t Wien.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

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