Sexuelle Gewalt in den besten Kreisen
Wer Kindesmissbrauch verharmlost oder diskret wegschaut, macht sich zum Komplizen. Zwei grandiose Enthüllungsbücher aus Frankreich erzählen davon.
Im Jänner vorigen Jahres Vanessa Springoras „Die Einwilligung“, nun Camille Kouchners „La familia grande“: Zwei Frauen – beide Mitte vierzig, erfolgreich, klug, mutig – erzählen über ihre von sexuellen Übergriffen geprägte Jugend in den linksliberalen Pariser Kunst- und Politmilieus der 1980er.
Vanessa Springora beschreibt, wie sie, „V.“, als vierzehnjähriges, vaterlos aufgewachsenes Mädchen vom französischen Schriftsteller Gabriel Matzneff („G. M.“) sexuell und literarisch missbraucht wurde. Matzneffs verbotene Vorliebe für junges Fleisch war kein Geheimnis, schließlich handeln seine Romane und Essays fast ausnahmslos von seiner Lust auf minderjährige Mädchen und Knaben. Ja, man bewunderte den „reuelosen Verführer, der sich selbst als eine Mischung aus Dorian Gray und Dracula versteht“(©Francois¸ Mitterand), zeichnete ihn mit Preisen aus, verwechselte beharrlich literarische Freiheit mit sexueller Übeltäterschaft. So spekulierte ein TV-Moderator einmal besonders ungustiös über den Ausklang des Abends: „Gabriel schicken wir mit einer Zwölfeinhalbjährigen ins Bett, und wir gehen zu den 62-jährigen Nutten.“Bestseller-Autor Fred´eric´ Beigbeder entgegnete, nicht minder ungustiös, er hätte es lieber andersrum.
Jean-Paul Sartre, Simone de Bouvoir, Andre´ Glucksman, Jacques Derrida, Roland Barthes, Catherine Millet, der spätere Kulturminister Jacques Lang: Die Cr`eme de la Cr`eme der französischen Intelligenzija unterstützte 1977 Matzneffs Petition, wonach Sex zwischen Erwachsenen und Minderjährigen straffrei bleiben sollte. Zu den Unterzeichnern zählte auch Bernard Kouchner, Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen, Friedensnobelpreisträger, ehemaliger Gesundheits-, später Außenminister, Europaabgeordneter – und Vater der Anwältin Camille Kouchner. Die erzählt in „La familia grande“über das privilegierte Aufwachsen in einer linksliberal geprägten Patchworkfamilie. Und über den zwei Jahre dauernden Missbrauch an ihrem Zwillingsbruder, begangen von Stiefvater Olivier Duhamel. Ihr Bruder war zwölf, als ihn der prominente Verfassungsexperte, TV-Kommentator und Regierungsberater das erste Mal nachts heimsuchte. Die 2017 verstorbene Mutter, die Politologin und Uni-Professorin Evelyne Pisier, verteidigte ihren Mann: Schließlich habe er den Buben nicht penetriert, sondern sich nur einen blasen lassen.
Erfreulich, dass die Gesellschaft offenbar ein bisschen prüder geworden ist. Denn in den 1980er-Jahren war Kindesmissbrauch vor den Augen einer faszinierten Öffentlichkeit kein französisches Alleinstellungsmerkmal. In Österreich deckten Künstler, Intellektuelle und Politiker von Bundeskanzler Bruno Kreisky abwärts lange Zeit Otto Muehls monströses Missverständnis von freier Sexualität, ehe der Kommunardenhäuptling 1991 wegen Unzucht, Vergewaltigung und Beischlafs mit Minderjährigen für sieben Jahre vom Friedrichshof in den Häfn übersiedeln musste. Ebenfalls in den 1980ern forderten die Grünen Deutschlands die Abschaffung des Pädophilieparagrafen. Daniel CohnBendit schrieb im Buch „Der große Basar“über Kleinkinder, die er an seinem Hosentürl fummeln ließ. Und schwafelte in einer TV-Show über das Gefühl, „wenn ein kleines Mädchen von fünf oder fünfeinhalb Jahren anfängt, Sie auszuziehen. Das ist fantastisch, weil es ein wahnsinnig erotisches Spiel ist.“Alles nur Provokation, beschwichtigte er Jahre später. Duhamel ist abgetaucht und schweigt. Matzneff ist nach Italien ausgewandert und schweigt. Gegen beide ermittelt die Staatsanwaltschaft. Man könne nicht behaupten, resümiert „Emma“, dass die Intellektuellen stärker als die katholische Kirche zu Selbstkritik und Aufarbeitung bereit wären.
Vielleicht doch? Zumindest Bernard Kouchner, Mitglied des „Schweigekartells“(©Deutsche Welle), ist erleichtert über die Enthüllungen seiner Tochter, denn „ein schweres Geheimnis hat seit Langem auf uns gelastet“.
Kindesmissbrauch vor den Augen einer faszinierten Öffentlichkeit war kein französisches Alleinstellungsmerkmal.