Urteil über einen Kindersoldaten
Kriegsverbrechen. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag entscheidet über Dominic Ongwen. Der 45-Jährige wurde als Kind entführt – und wuchs später zum Peiniger Tausender Ugander heran.
In Den Haag wird über einen Peiniger geurteilt, der als Kind entführt wurde.
Wien/Den Haag. Noch einmal werden die Polizisten ihn aus seiner Zelle holen, mit ihm ein paar Minuten die Straße in der niederländischen 500.000-Einwohner-Stadt Den Haag hinunterfahren. Sie werden ihn in eines der rechteckigen Gebäude aus Stahl und Beton führen, in denen der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) untergebracht ist. Im Gerichtssaal Nummer eins soll am Donnerstagvormittag das Urteil fallen.
Es ist der vorläufige Schlusspunkt einer einzigartigen Geschichte über Recht und Gerechtigkeit, über die Frage, wie viel Schuld ein Mann auf sich laden kann, der als Kind in ein mörderisches System hineingezogen, in ihm sozialisiert und wohl fürs Leben traumatisiert wurde. Am Ende steht die Frage, wie Uganda, aber auch die Weltöffentlichkeit, mit einem wie ihm verfahren soll.
Rote Kreuze und Führerkult
Wie schon an den Gerichtstagen zuvor wird Dominic Ongwen einen Anzug tragen, ein Hemd, eine Krawatte. Er wird Platz nehmen, sich die Kopfhörer über die Ohren streichen und der Dolmetscherin lauschen, die für ihn aus dem Englischen in Acholi übersetzt, seine Muttersprache. Seit mehr als fünf Jahren wartet der 45-jährige Ugander auf sein Urteil. Er hat in der Haft Klavier spielen gelernt und damit begonnen, an seiner Biografie zu schreiben.
Dominic Ongwen ist ein Teenager, fast noch ein Kind, als er in der Nähe des Dorfes Cooroom in Norduganda von ein paar Männern entführt wird. Es sind die 1980er-Jahre, eine christlich-fundamentalistische Rebellengruppe kämpft gegen die Regierungstruppen aus dem Süden und überzieht das Land mit Terror. Sie nennt sich die Lord’s Resistance Army (Widerstandsarmee des Herrn, LRA) und wird von Joseph Kony angeführt. Der Ugander aus der Volksgruppe der Acholi will einen christlichen Gottesstaat errichten, um sich selbst baut er einen bizarren Führerkult.
Vor ihren Schlachten malen sich LRA-Kämpfer rote Kreuze auf die Brust, weil sie sich so für unverwundbar halten. Sie weihen ihre Gewehre, glauben an Geister. Und sie entführen Kinder, die sie für ihren Kult indoktrinieren. Die
Burschen formen sie mit brutalster Gewalt zu Kämpfern, die Mädchen werden zwangsverheiratet, Tausende werden vergewaltigt und geschwängert. Nach konservativen Schätzungen sollen in mehr als 20 Jahren des LRA-Terrors mindestens 20.000 ugandische Kinder verschwunden sein.
Dominic Ongwen war eines von ihnen. Er ist aber auch mehr.
70 Punkte listet die Anklage
Es ist Jänner 2015, als der Ugander zum ersten Mal auf europäischem Boden vor seine Richter tritt. Zu diesem Zeitpunkt ist er 41 Jahre alt, seit mehr als 25 Jahren bei der LRA und zu einem ihrer fünf wichtigsten Kommandanten aufgestiegen. Zum Mann gewachsen, soll er anderen angetan haben, was er selbst erleben musste: Folter, Gewalt, Mord, Vergewaltigung, Zwangsheirat. 70 Punkte listet die Anklage auf. Sie alle vorzulesen dauert 26 Minuten.
Einmal fragt ein Richter, ob Ongwen verstehe, was ihm vorgeworfen wird. Der antwortet: „Es ist die LRA, die Gräueltaten in Norduganda begangen hat – auch gegen mich. Aber ich bin nicht die LRA.“
Über vier Jahre hinweg legen die Ankläger ihre Beweise vor, darunter abgefangene Funksprüche, 70 Zeugen werden aussagen, rund 4000 Opfer schließen sich dem Verfahren an. Die Verteidiger sagen, es gebe einen bösen Dominic und einen guten. Sie laden Psychologen vor, die ihn entlasten sollen. Die Ankläger sagen, es gehe nicht um Gut oder Böse, sondern um die Frage, ob er sich schuldig gemacht habe. Sie bestellen Psychologen, die den Ugander für zurechnungsfähig halten. Nun sind die Schlussplädoyers gehalten.
Für die Urteilsverkündung organisierte der IStGH in nordugandischen Dörfer einen Livestream. Die Menschen sollen sehen, wie das Weltgericht über den Terror der LRA urteilt. Die Richter im fernen Europa sind nicht umstritten: Die Angeklagten sind meist Afrikaner, weder die USA noch China oder Russland unterwerfen sich dem 2002 ins Leben gerufenen Strafgericht. Außerdem sieht das traditionelle Recht der Acholi bei Mord eine Wiedergutmachung an die Opfer und ein Läuterungsritual vor, keine Gefängnisstrafe.
Halten die Richter in Den Haag Dominic Ongwen für schuldig, drohen ihm bis zu 30 Jahre Haft.