„Wegen Orb´ans Spin wollen sich weniger Ungarn impfen lassen“
Interview. Die liberale ungarische EU-Mandatarin und Ärztin Katalin Cseh warnt vor wachsender Impfskepsis.
Brüssel. Als die erste Welle der Pandemie auf ihr Heimatland zurollte, beschloss Katalin Cseh, ihr Abgeordnetenbüro in Brüssel gegen eine Covidstation in Budapest zu tauschen. Gut zwei Monate lang arbeitete die Fachärztin für Gynäkologie und EU-Mandatarin der liberalen Partei Momentum ehrenamtlich an der medizinischen Front gegen die Seuche. „Das war eine der lohnendsten Erfahrungen meines Lebens, meinem Land in so einer schweren Zeit zu helfen“, erinnert sich die 32-Jährige, die auch einen Masterabschluss der Universität Rotterdam in Gesundheitsökonomie hat, im Gespräch mit der „Presse“an den Frühling.
Doch zugleich sah sie mit eigenen Augen die tiefe Krise des ungarischen Staatswesens. Schon als junge Ärztin, vor ihrer politischen Karriere, sei ihre größte Angst stets gewesen: „Eine größere Gesundheitskrise trifft irgendwann einmal Ungarn. Denn diese Regierung, aber auch frühere Regierungen, haben notorisch zu wenig in die Modernisierung des ungarischen Gesundheitswesens und die Arbeitsbedingungen des Gesundheitspersonals investiert.“Das Gesundheitssystem „war und ist einer der schwächsten Punkte des ungarischen Staates. Leider hat die Pandemie das bestätigt.“
Krankenschwestern gehen putzen
Die mangelnden Gesundheitsausgaben, an denen sich auch im Jahrzehnt seit des erneuten Regierungsantritts von Viktor Orbans´ nationalkonservativer Fidesz-Partei wenig geändert hat, führen zu eklatantem Personalmangel. „Als wir in die Pandemie kamen, war ein Großteil der ungarischen Ärzte entweder im Ausland oder in der Privatwirtschaft. Die öffentlichen Spitäler waren in einem entsetzlichen Zustand“, sagt Cseh. „Zumindest die Hälfte meiner Studienkollegen arbeiten nicht mehr im öffentlichen ungarischen Gesundheitssektor. Viele gehen ins Ausland, aber eine beträchtliche Menge ist in Ungarn geblieben und arbeitet im Pharmasektor oder für Privatkliniken.“Kurzum: die öffentlichen Krankenhäuser sind überlastet und haben zu wenig Personal. Und selbst das vorhandene Personal war schon vor der Pandemie schwer strapaziert: „Als ich im Spital arbeitete, verdiente eine Krankenschwester zu Beginn ihrer Karriere weniger als die Putzkraft, die ihre Station reinigte. Es gab Krankenpflegerinnen mit 30 Jahren Erfahrung, die an den Ruhetagen nach ihren Nachtschichten als Reinigungskräfte arbeiteten, um über die Runden zu kommen. Wie können wir so etwas erlauben?“Dabei kam Ungarn in der ersten Welle der Pandemie noch vergleichsweise glimpflich davon: „Damals gab es in Ungarn noch nicht so viele Covid-Patienten. Wir konnten sie entsprechend betreuen. Aber ich spürte schon zu diesem Zeitpunkt, dass viele andere Patienten völlig vernachlässigt wurden. Zum Beispiel Lungenkrebspatienten: um die konnte sich niemand kümmern, oder erst viel später.“
Ärztekammer warnt
Die Säumigkeit der Orban-´Regierung und ihre spärliche Information an die Bürger verbinde sich mit ihrer Anti-EU-Propaganda zu einem gefährlichen Cocktail, warnt Cseh: „Die mangelnde Offenheit und Information der Regierung bereitet einen fruchtbaren Boden für Verschwörungstheorien und Fake News. Das sieht man gut an der Debatte um die Impfkampagne. Die Entscheidung der Regierung, zusätzliche Impfstoffe zu kaufen, die noch nicht von der EUArzneimittelagentur genehmigt sind, hat das öffentliche Vertrauen nicht gefördert.“
Damit spricht Cseh die Impfstoffe aus Russland und China an. Am Dienstag erklärte die ungarische Ärztekammer, dass sie „nicht guten Gewissens die Verwendung dieser Produkte empfehlen kann“, weil Ungarns Behörden noch keine Daten über Sputnik V und Sinovac veröffentlicht haben. „Wegen Orbans´ Propaganda und Spin wollen sich weniger Ungarn impfen lassen. Das ist sehr gefährlich“, warnt Cseh. „Ungarn hatte immer hohe Impfraten, auch weil es Teil des Ostblocks war. Impfskepsis war nie ein großes Thema. Das ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich viele Leute sehe, die sich um die Sicherheit von Impfstoffen sorgen und der Wissenschaft misstrauen.“
Das Gesundheitssystem ist einer der schwächsten Punkte Ungarns. Katalin Cseh, EU-Abgeordnete [ Twitter/katka cseh ]