Was Präsident Lukaschenko nicht liest
Bücher. Die politischen Ereignisse in Belarus haben die Sichtbarkeit der Literatur im Westen befördert – mehrere Neuerscheinungen zeugen davon. Was aber bedeutet es für belarussische Autoren, ständig über Politik zu reden?
Wenn eine belarussische Autorin heutzutage im Ausland öffentlich liest, dann geht es selten nur um Literatur. Die Unterdrückung der Bürgerbewegung, die Zukunftsaussichten für Präsident Alexander Lukaschenko, die Rolle Russlands und der EU – das sind die bestimmenden Themen. Immerhin, sagt Volha Hapeyeva im Gespräch mit der „Presse“, sei bei diesen Gesprächen ein „Fortschritt“zu bemerken: „Die Menschen wissen mehr.“Hapeyeva, 39, ist Autorin aus Belarus. Ihr Roman „Camel Travel“erscheint am Freitag im Grazer Verlag Droschl. Früher habe sie oft klarstellen müssen, sagt sie, dass Belarus nicht Russland sei und das Belarussisch eine slawische Sprache sei, die selbst Russen nicht immer verstehen. Mittlerweile sei das ausländische Publikum informierter.
„Unser point of no return ist die Sichtbarkeit“schrieb die belarussische Essayistin Iryna Herasimovich zu Beginn der Demonstrationen nach der gefälschten Präsidentenwahl im Sommer 2020. Damit spielte sie auf die Anteilnahme aus dem Ausland an, auf die plötzliche Wahrnehmung eines Landes, das für viele vorher ein weißer Fleck auf der Landkarte Europas war. Auch in der Literatur ist diese internationale Aufmerksamkeit zu bemerken. Es steigt die Zahl der Einladungen, Kooperationen, Übersetzungen. Ähnliche Entwicklungen gibt es seit ein paar Jahren in der Ukraine. Dort wirkte der Krieg im Donbass als Beschleuniger von kulturellen Kontakten, von Know-how.
Frauen im Bürgeraufstand
Leser im Westen entdecken die Literatur aus Belarus gerade erst. Gut, einem interessierten Publikum war Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch ein Begriff. Gegenwartsautoren wie Viktor Martinowitsch, Zmicier Vishniou oder Artur Klinau – alle auf Deutsch erhältlich – galten bisher eher nur unter Osteuropa-Spezialisten als heiße Ware. Doch nun ist eine Neuerscheinungswelle in der deutschsprachigen Verlagslandschaft zu bemerken. Publizistisch-essayistisch greift der Sammelband „Belarus! Das weibliche Gesicht der Revolution“die zentrale Rolle der Frauen im Bürgeraufstand auf. Erschienen ist er bei der Edition FotoTapeta, einem Berliner Verlag, der sich um Stimmen aus Belarus bemüht.
Der „riesige Mann“regiert noch immer
Auch zeitgenössische Literatur schafft es nun vermehrt in die Regale der Buchläden: Der Diogenes-Verlag bringt im März den zweiten Roman des in Minsk geborenen und in Russland lebenden Sasha Filipenko, Jahrgang 1984, heraus. Im Zentrum von „Der ehemalige Sohn“steht Franzisk, ein junger Mann, der bei einer Massenpanik für mehrere Jahre ins Koma fällt. Das im Buch beschriebene traumatische Ereignis gab es wirklich: 1999 kamen bei einem Gedränge in der Minsker Metro mehr als 50 Menschen ums Leben. Jahre später erwacht Franzisk – und muss sehen, dass sich in der „jungen Republik“beinahe nichts verändert hat: Noch immer ist jener „riesige erwachsene Mann“am Ruder, der seine Mitbürger liebend gern zusammenstaucht. Enthumanisierung, soziale Kälte und Angst schreiten voran. In dem Roman verarbeitet Filipenko auch die Proteste von 2008, als Aufbegehren gegen die bleierne Herrschaft: Die Menschen, die auf die Straßen ihrer Stadt gingen, heißt es, „besiegten erstmals ihre eigene Angst“.
Zeitlich früher setzt Hapeyevas Roman an. „Camel Travel“, in Belarus 2019 erschienen, schildert die Kindheit der Erzählerin in der ausgehenden Sowjetunion. Beiläufig beschreibt sie die kleinen Kämpfe gegen geschlechtliche und soziale Begrenzungen, ihr Verhältnis zur „BSSR“und zum Belarussischen, das sie mit einer „Partisanin“vergleicht und lieb gewinnen wird. Und während bei Hapeyeva das sowjetische Versprechen von der „lichten Zukunft“ironisiert wird, kommt es in Viktor Martinowitschs neuem Roman nur noch als Trugbild vor. Anders als bei Filipenko und Hapeyeva bilden nicht Vorgänge in Belarus den Hintergrund der Handlung. Die Story entfaltet sich in einem harten und gnadenlosen Moskau. „Revolution“handelt von Macht, Unterordnung – und von Angst. Im Herbst erschien das Buch in Belarus, seit Jänner ist es auf Deutsch erhältlich.
Ein „paradoxes“Interesse
Wie ihre Landsleute wollten die Schriftsteller gegen die Angst kämpfen – mit ihren Mitteln. Als politischer Beobachter will sich Viktor Martinowitsch verstanden wissen. Er gibt internationalen Medien Interviews und führt ein Tagebuch der Ereignisse. Doch das Engagement zehrt an ihm: „Ich bin ziemlich fertig“, sagte er jüngst in einem Interview. Auch sein Verleger wird von den Behörden unter Druck gesetzt. Sasha Filipenko wiederum versucht den Russen den Aufbruch in seinem Land zu erklären, eine trotz geografischer und kultureller Nähe nicht einfache Aufgabe. Volha Hapeyeva hingegen findet es „paradox“, dass die Sichtbarkeit belarussischer Literatur mit einem so traumatischen Ereignis zusammenhängt. Wie auf den Bürgern vor Ort lastet auf den Autoren eine vom Publikum womöglich unterschätzte persönliche Verstrickung und Verantwortung. „Wie eine Botschafterin“fühle sie sich manchmal, sagt Hapeyeva. Für sie ist diese Rolle mit ambivalenten Gefühlen verbunden: Denn in ihrer Heimat fühlte sich die 39-Jährige im „Selbst-Exil“, wie sie in einem Essay schreibt.
Dass sie im Ausland lebt, hat mit der politisch angespannten Lage zu tun. Als der Aufstand losbrach, war sie gerade Stadtschreiberin in Graz. Noch bis Ende Februar ist sie Gast in einer Künstlerresidenz im niederösterreichischen Krems. Österreich im Lockdown, das bedeutet „viele Spaziergänge, schöne Natur, ein bisschen Langeweile“. Bald geht Hapeyeva für längere Zeit nach München, wieder als Stipendiatin. Eine Rückkehr nach Belarus sei riskant, sagt sie. „Du weißt nie, was morgen passieren wird.“Sie könne mehr für die belarussische Literatur und die Menschen in ihrer Heimat tun, „wenn ich in Freiheit bin“. Für ihre Lesungen hofft sie, dass auch Zuhörer kommen, „die an Literatur interessiert sind und nicht nur über Belarus informiert werden wollen“.