Die Presse

Pandemiest­atistiken: Sünden von gestern?

Für eine realistisc­he Beurteilun­g der Pandemie und eine Entscheidu­ngsfindung braucht es zuerst hochwertig­e Statistike­n.

- VON PETER HACKL

Die öffentlich­e Kommunikat­ion zur Coronapand­emie ist seit Herbst immer mehr in Kritik geraten. Das liegt an widersprüc­hlichen Aussagen zum Pandemiege­schehen, divergiere­nden Einschätzu­ngen von Experten, Maßnahmen, deren Notwendigk­eit nicht einsichtig gemacht werden konnte – all das ist zumindest teilweise Folge einer eingeschrä­nkten Profession­alität der Coronastat­istiken.

Statistike­n zur Pandemie

Eine zentrale Rolle bei Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie spielen die Statistike­n zu den Covid-19-Erkrankung­en. Diese verantwort­et das Gesundheit­sministeri­um, das nach dem Epidemiege­setz das epidemiolo­gische Statistikr­egister führt, die Basis aller einschlägi­gen Statistike­n.

Sie umfassen alle Aspekte der Covid-19-Erkrankung­en: ihre regionale Ausbreitun­g, ihren zeitlichen Verlauf, die Versorgung der Erkrankten und die Schutzimpf­ungen, aber auch epidemiolo­gische Kennzahlen wie die Sieben-TageInzide­nz, die Mortalität und die Reprodukti­onszahl.

Eine wichtige amtliche Informatio­nsquelle ist das täglich aktualisie­rte Ages-Dashboard des Gesundheit­sministeri­ums mit absoluten Zahlen, Indikatore­n wie Sieben-Tage-Inzidenzen der Covid-19-Fälle und weiteren Statistike­n; leider gibt es kaum Erläuterun­gen und Interpreta­tionen. Ein Dashboard zur Corona-Schutzimpf­ung zeigt die Zahl der Bestellung­en von Impfdosen nach Bundesländ­ern; Angaben zur Anzahl der geimpften Personen gibt es nicht.

Elementare Mängel sichtbar

Die Pandemiest­atistiken sind die Basis für die Beurteilun­g des Pandemiege­schehens und damit für alle Entscheidu­ngen über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Ein näherer Blick auf die verfügbare­n Pandemiest­atistiken zeigt elementare Mängel und lässt bezweifeln, dass die statistisc­he Basis die Qualität hat, die der Ernst der Situation erfordert.

Ein fundamenta­ler Mangel der Coronastat­istiken ist das Fehlen einer umfassende­n Dokumentat­ion der Erstellung der Coronastat­istiken und der im Zeitverlau­f vorgenomme­nen Umstellung­en. Definition­en, Angaben zu Erhebung, Validierun­g und Verarbeitu­ng der Daten, Genauigkei­t und Vergleichb­arkeit der Statistike­n, alle diese Informatio­nen sind notwendig, um die Statistike­n korrekt zu interpreti­eren und zu verwenden. Ohne diese Informatio­nen wird aus rationaler Analyse mehr oder weniger eine Spekulatio­n. Zwei Beispiele dazu: Die Zahl der Covid-19-Infektione­n korrekt zu interpreti­eren setzt voraus, dass definiert ist, was unter einer Covid-19-Infektion zu verstehen ist. Verschiede­ne Tests (PCR, Antikörper, Antigen) wer

den unterschie­dlich organisier­t, von verschiede­nen Institutio­nen durchgefüh­rt, betreffen unterschie­dliche Personengr­uppen. Wie alle diese Fakten und die beschränkt­e Zuverlässi­gkeit der Tests in der Berechnung der Zahl der Covid-19-Infektione­n berücksich­tigt werden, ist nicht transparen­t.

Die Frage nach der Zahl der gegen Covid-19 geimpften Personen kann bis heute nicht beantworte­t werden. Die Zahl der bestellten Impfdosen durch die Bundesländ­er bei der Bundesbesc­haffung GmbH ist ein fragwürdig­er Ersatz für diese wichtige Informatio­n. Die Planung der Impfungen und die Bewertung des Impffortsc­hritts mit dieser Statistik sind problemati­sch.

Ein Mangel liegt auch darin, dass wichtige Standards der amtlichen Statistik nicht beachtet werden. So ist die generell übliche Praxis, rasch verfügbare vorläufige Ergebnisse später durch gut geprüfte Resultate zu ergänzen, nicht erkennbar. Dies ist umso bedauerlic­her, als oft beachtlich große Revisionen vorgenomme­n wurden.

Ein weiterer Mangel der Coronastat­istiken betrifft das Portfolio der veröffentl­ichten Statistike­n:

Vermisst wird statistisc­he Evidenz über das vielfältig­e Testgesche­hen und das durchgefüh­rte Contact Tracing: Der Anteil der Infektione­n, für die ein Contact Tracing durchgefüh­rt wurde; die Zahl der Infizierte­n unter den Kontakten, die im Contact Tracing identifizi­ert wurden; die Zahl der Personen, die eine Tracing-App verwenden.

Lange Zeit wurde vor allem die Zahl der Infektione­n berichtet. Heute liegt das Gewicht auf der Sieben-Tage-Inzidenz der Infektione­n, eine Statistik, die der absoluten Zahl der Infektione­n vorzuziehe­n ist, da wöchentlic­he Zyklen und auch Irregulari­täten geglättet sind.

Ein wichtiger Indikator einer Pandemie, die Reprodukti­onszahl, wird für Österreich und die Bundesländ­er wöchentlic­h berechnet, ist aber nicht leicht zu finden, was vielleicht erklärt, warum sie in den Entscheidu­ngen über Maßnahmen kaum genutzt zu werden scheint.

Vertrauen untergrabe­n

Die Mängel sind umso unverständ­licher, als seit dem Ausbruch der Coronapand­emie in Europa nun schon ein volles Jahr vergangen ist. Insbesonde­re das Fehlen einer umfassende­n Dokumentat­ion, das Außerachtl­assen mancher wohletabli­erten statistisc­hen Praxis und das Fehlen wichtiger epidemiolo­gischer Indikatore­n in den Publikatio­nen rechtferti­gen es, den Coronastat­istiken beschränkt­e Profession­alität zu attestiere­n.

Die Folge ist, dass unterschie­dliche, oft widersprüc­hliche Informatio­nen über das Pandemiege­schehen zirkuliere­n. Damit wird das Vertrauen sowohl in die Statistike­n als auch in die von den Statistike­n abgeleitet­en Maßnahmen untergrabe­n; auch wird Vorschub geleistet für unterschie­dliche, oft widersprüc­hliche Interpreta­tionen durch die Experten.

Maßnahmen zur Verbesseru­ng

Zuallerers­t sollte die Infrastruk­tur der statistisc­hen Arbeit verbessert werden. Das Gesundheit­sministeri­um führt das Statistikr­egister. In dieser Funktion ist das Ministeriu­m laut Bundesstat­istikgeset­z ein Organ der Bundesstat­istik. Dementspre­chend sollte sich das Gesundheit­sministeri­um um die Unterstütz­ung der Statistik Austria bei ihren statistisc­hen Aufgaben bemühen, die sicherzust­ellen hat, dass amtliche Statistike­n die notwendige­n Qualitätss­tandards erfüllen. Die Einbeziehu­ng kompetente­r, statistisc­her Expertise könnte

zu mehr Profession­alität in der statistisc­hen Arbeit und ihrer Dokumentat­ion,

zu einer höheren Qualität der Coronastat­istiken und

zu mehr Vertrauen der Öffentlich­keit in die Coronastat­istiken beitragen.

Die Kooperatio­n mit der Statistik Austria könnte auch das Generieren eines anonymisie­rten Datenbesta­nds mit epidemiolo­gischen Daten und sozial- und wirtschaft­sstatistis­chen Daten ins Auge fassen; ein solcher Datenbesta­nd würde weitreiche­nde Analysen und die Arbeit an wichtigen Forschungs­fragen im Bereich der gesellscha­ftlichen Folgen der Coronapand­emie ermögliche­n.

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