Pandemiestatistiken: Sünden von gestern?
Für eine realistische Beurteilung der Pandemie und eine Entscheidungsfindung braucht es zuerst hochwertige Statistiken.
Die öffentliche Kommunikation zur Coronapandemie ist seit Herbst immer mehr in Kritik geraten. Das liegt an widersprüchlichen Aussagen zum Pandemiegeschehen, divergierenden Einschätzungen von Experten, Maßnahmen, deren Notwendigkeit nicht einsichtig gemacht werden konnte – all das ist zumindest teilweise Folge einer eingeschränkten Professionalität der Coronastatistiken.
Statistiken zur Pandemie
Eine zentrale Rolle bei Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie spielen die Statistiken zu den Covid-19-Erkrankungen. Diese verantwortet das Gesundheitsministerium, das nach dem Epidemiegesetz das epidemiologische Statistikregister führt, die Basis aller einschlägigen Statistiken.
Sie umfassen alle Aspekte der Covid-19-Erkrankungen: ihre regionale Ausbreitung, ihren zeitlichen Verlauf, die Versorgung der Erkrankten und die Schutzimpfungen, aber auch epidemiologische Kennzahlen wie die Sieben-TageInzidenz, die Mortalität und die Reproduktionszahl.
Eine wichtige amtliche Informationsquelle ist das täglich aktualisierte Ages-Dashboard des Gesundheitsministeriums mit absoluten Zahlen, Indikatoren wie Sieben-Tage-Inzidenzen der Covid-19-Fälle und weiteren Statistiken; leider gibt es kaum Erläuterungen und Interpretationen. Ein Dashboard zur Corona-Schutzimpfung zeigt die Zahl der Bestellungen von Impfdosen nach Bundesländern; Angaben zur Anzahl der geimpften Personen gibt es nicht.
Elementare Mängel sichtbar
Die Pandemiestatistiken sind die Basis für die Beurteilung des Pandemiegeschehens und damit für alle Entscheidungen über Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Ein näherer Blick auf die verfügbaren Pandemiestatistiken zeigt elementare Mängel und lässt bezweifeln, dass die statistische Basis die Qualität hat, die der Ernst der Situation erfordert.
Ein fundamentaler Mangel der Coronastatistiken ist das Fehlen einer umfassenden Dokumentation der Erstellung der Coronastatistiken und der im Zeitverlauf vorgenommenen Umstellungen. Definitionen, Angaben zu Erhebung, Validierung und Verarbeitung der Daten, Genauigkeit und Vergleichbarkeit der Statistiken, alle diese Informationen sind notwendig, um die Statistiken korrekt zu interpretieren und zu verwenden. Ohne diese Informationen wird aus rationaler Analyse mehr oder weniger eine Spekulation. Zwei Beispiele dazu: Die Zahl der Covid-19-Infektionen korrekt zu interpretieren setzt voraus, dass definiert ist, was unter einer Covid-19-Infektion zu verstehen ist. Verschiedene Tests (PCR, Antikörper, Antigen) wer
den unterschiedlich organisiert, von verschiedenen Institutionen durchgeführt, betreffen unterschiedliche Personengruppen. Wie alle diese Fakten und die beschränkte Zuverlässigkeit der Tests in der Berechnung der Zahl der Covid-19-Infektionen berücksichtigt werden, ist nicht transparent.
Die Frage nach der Zahl der gegen Covid-19 geimpften Personen kann bis heute nicht beantwortet werden. Die Zahl der bestellten Impfdosen durch die Bundesländer bei der Bundesbeschaffung GmbH ist ein fragwürdiger Ersatz für diese wichtige Information. Die Planung der Impfungen und die Bewertung des Impffortschritts mit dieser Statistik sind problematisch.
Ein Mangel liegt auch darin, dass wichtige Standards der amtlichen Statistik nicht beachtet werden. So ist die generell übliche Praxis, rasch verfügbare vorläufige Ergebnisse später durch gut geprüfte Resultate zu ergänzen, nicht erkennbar. Dies ist umso bedauerlicher, als oft beachtlich große Revisionen vorgenommen wurden.
Ein weiterer Mangel der Coronastatistiken betrifft das Portfolio der veröffentlichten Statistiken:
Vermisst wird statistische Evidenz über das vielfältige Testgeschehen und das durchgeführte Contact Tracing: Der Anteil der Infektionen, für die ein Contact Tracing durchgeführt wurde; die Zahl der Infizierten unter den Kontakten, die im Contact Tracing identifiziert wurden; die Zahl der Personen, die eine Tracing-App verwenden.
Lange Zeit wurde vor allem die Zahl der Infektionen berichtet. Heute liegt das Gewicht auf der Sieben-Tage-Inzidenz der Infektionen, eine Statistik, die der absoluten Zahl der Infektionen vorzuziehen ist, da wöchentliche Zyklen und auch Irregularitäten geglättet sind.
Ein wichtiger Indikator einer Pandemie, die Reproduktionszahl, wird für Österreich und die Bundesländer wöchentlich berechnet, ist aber nicht leicht zu finden, was vielleicht erklärt, warum sie in den Entscheidungen über Maßnahmen kaum genutzt zu werden scheint.
Vertrauen untergraben
Die Mängel sind umso unverständlicher, als seit dem Ausbruch der Coronapandemie in Europa nun schon ein volles Jahr vergangen ist. Insbesondere das Fehlen einer umfassenden Dokumentation, das Außerachtlassen mancher wohletablierten statistischen Praxis und das Fehlen wichtiger epidemiologischer Indikatoren in den Publikationen rechtfertigen es, den Coronastatistiken beschränkte Professionalität zu attestieren.
Die Folge ist, dass unterschiedliche, oft widersprüchliche Informationen über das Pandemiegeschehen zirkulieren. Damit wird das Vertrauen sowohl in die Statistiken als auch in die von den Statistiken abgeleiteten Maßnahmen untergraben; auch wird Vorschub geleistet für unterschiedliche, oft widersprüchliche Interpretationen durch die Experten.
Maßnahmen zur Verbesserung
Zuallererst sollte die Infrastruktur der statistischen Arbeit verbessert werden. Das Gesundheitsministerium führt das Statistikregister. In dieser Funktion ist das Ministerium laut Bundesstatistikgesetz ein Organ der Bundesstatistik. Dementsprechend sollte sich das Gesundheitsministerium um die Unterstützung der Statistik Austria bei ihren statistischen Aufgaben bemühen, die sicherzustellen hat, dass amtliche Statistiken die notwendigen Qualitätsstandards erfüllen. Die Einbeziehung kompetenter, statistischer Expertise könnte
zu mehr Professionalität in der statistischen Arbeit und ihrer Dokumentation,
zu einer höheren Qualität der Coronastatistiken und
zu mehr Vertrauen der Öffentlichkeit in die Coronastatistiken beitragen.
Die Kooperation mit der Statistik Austria könnte auch das Generieren eines anonymisierten Datenbestands mit epidemiologischen Daten und sozial- und wirtschaftsstatistischen Daten ins Auge fassen; ein solcher Datenbestand würde weitreichende Analysen und die Arbeit an wichtigen Forschungsfragen im Bereich der gesellschaftlichen Folgen der Coronapandemie ermöglichen.