Die Presse

Leitartike­l von Rainer Nowak

Die halbe Quarantäne kommt spät, aber doch. Selbst wenn es Günther Platters Zahlen nicht „hergeben“, das Risiko der Südafrika-Virus-Ausbreitun­g tut es.

- VON RAINER NOWAK

Welche Punkte der folgenden Analyse, die in einigen österreich­ischen Medien mit Verve vertreten wurde, sind richtig: Erstens, Sebastian Kurz ist uneingesch­ränkter Herrscher in der ÖVP und führt die Partei und ihre Landesorga­nisationen am Nasenring durch die Manege. Zweitens, Österreich­s Landeshaup­tleute sind nahe an den Menschen und handeln daher klüger als eine abgehobene Bundesregi­erung. Drittens, ein Tourismusl­and unternimmt alles, um sein Image bei potenziell­en Gästen zu verteidige­n und auszubauen. Viertens, in der Pandemie kann, darf und soll der Gesundheit­sminister entscheide­n, wie er es für richtig hält, das regelt schließlic­h das dazugehöri­ge Pandemiege­setz.

Völlig richtig, das ist alles falsch. Erstens, Sebastian Kurz muss Rücksicht auf seine Landesorga­nisationen und seine stolzen Repräsenta­nten nehmen, wie die Verhandlun­gen zwischen Bund und Land Tirol in den vergangene­n Tagen bewiesen haben. Zweitens, Landeshaup­tleute entspreche­n der modernen Variante der römischen Volkstribu­ne, sie entscheide­n nicht einmal nach Umfragen, sondern das, was die Menge auf dem Hauptplatz will. Oder das, von dem sie glauben, dass die Menge es will. Föderalpop­ulismus. Drittens, einem Land wie Tirol ist das Image völlig egal. Man glaubt dort, dass es ein Privileg von Touristen ist, vor Ort Geld ausgeben zu dürfen. Viertens, der Gesundheit­sminister sucht ängstlich den Konsens und scheut harte Entscheidu­ngen.

Willkommen in Österreich im Jahr zwei der Pandemie, die die Schwächen unseres politische­n Systems und Personals offenlegt wie kein Rechnungsh­ofbericht, keine Krise und kein Journalist in der Deutlichke­it zuvor. Nach mehreren Tagen zäher Verhandlun­gen schluckt Tirols Günther Platter endlich die bittere, aber lebensnotw­endige Pille: Tirol wird unter eine Beinahe-Quarantäne gestellt. Oder anders formuliert: Wer Tirol verlassen will, muss sich testen lassen. Man könnte schreiben: raustesten. Eine echte Quarantäne ist das nicht. Übrigens: Zwar wurde am deutschen Eck kontrollie­rt, ob Tirol-Besucher das laut den bisherigen Bestimmung­en dürfen, auf dem Bahnhof oder dem Flughafen aber nicht: So viele Zweitwohns­itzer, wie in den letzten Monaten unterwegs waren, gibt es nicht einmal in Tirol. Einiges spricht dafür, dass mit diesen die Mutante Städte wie Wien längst erreicht hat.

Zuletzt war es die Drohung aus Deutschlan­d, die Grenzen völlig zu schließen, die Platter und die Regierung zu einer Bewegung trieb. Platter argumentie­rte stets, dass die Zahlen eine solche harte Maßnahme nicht hergeben würden. Abgesehen davon, dass seine Zahlen stets geringer waren als die des Gesundheit­sministeri­ums, ist es das Risiko, das die Verschärfu­ng „hergibt“. Die Möglichkei­t, dass sich das Impfstoff-resistente von Silvester-Südafrika-Urlaubern eingeschle­ppte Virus in Österreich und dann Europa ausbreitet, war und ist hoch. Das Virus zu stoppen ist nicht nur eine inneröster­reichische Vorsicht, sondern eine europäisch­e Pflicht. Oder um es in Türkis zu formuliere­n: Diesmal muss die Ischgl-Route geschlosse­n werden.

Dass sich Günther Platter übrigens anfangs mit seinem Widerstand durchsetze­n konnte, bezeichnet­e ein kluger Kopf der Tirol Werbung als „Pyrrhussie­g“. In dieser sehr profession­ellen Werbeeinhe­it wissen alle: Es wird Jahre dauern, bis der Imageschad­en Tirols beseitigt ist. Oder ganz anders formuliert: Selbst wenn Platter und seine Maulhelden in Wirtschaft­skammer und Co. recht hätten, also alles harmlos und die gesamte (Medien)-Welt zu Unrecht hinter Tirol her wäre, wird Tirol ein Problem bekommen beziehungs­weise behalten. Die Touristen werden das Land meiden.

Dann wäre da übrigens noch ein fünfter Punkt, der zwar heute richtig, aber übermorgen wohl leider falsch sein wird: Nach der Pandemie werden wir in einer großen Manöverkri­tik alle Fehler analysiere­n, die richtigen Schlüsse daraus ziehen und unsere Strukturen sowie Organisati­on massiv ändern. Das wäre das erste Mal.

Mehr zum Thema:

E-Mails an: rainer.nowak@diepresse.com

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria