Südtirols gescheiterter Sonderweg
Neuer Lockdown. Die Provinz wollte mit Massentests und Lockerungen durch die Pandemie kommen. Coronamutanten und steigende Infektionszahlen machten Strich durch die Rechnung.
Rom. Für Südtirol gibt es derzeit nur einen Weg: alles zu – und zwar sofort. Die autonome Provinz in Norditalien, die seit Ausbruch des Coronavirus immer wieder versucht hat, harte Lockdown-Maßnahmen zu umgehen und die Pandemie mit einem Sonderweg zu bekämpfen, muss sich geschlagen geben. Das Virus hat die Oberhand gewonnen, mit einer Vehemenz, die keine Alternative als einen kompletten Lockdown zulässt.
In diesem befindet sich die Provinz mit ihren rund 520.000 Einwohnern seit Montag: Die Geschäfte und Schulen sind zu, die Menschen dürfen ihre Heimatkommune nicht verlassen. Betriebe dürfen weiterarbeiten, müssen ihre Mitarbeiter aber regelmäßig auf das Virus testen. Diese Maßnahmen gelten vorerst bis 28. Februar. Landeshauptmann Arno Kompatscher appellierte an die Bevölkerung: „Jetzt brauchen wir die Einhaltung der Regeln und die Solidarität aller, um in drei Wochen wieder öffnen zu können, sonst werden alle Anstrengungen umsonst gewesen sein.“
Dieser Appell und der Lockdown waren nötig geworden, nachdem Südtirol konstant hohe Neuinfektionen und zuletzt auch die Präsenz der englischen Virusmutante registriert hatte. Bei der
Auswertung der Coronalage auf Regionalebene teilte das europäische Zentrum für die Prävention und Kontrolle von Krankheiten Südtirol in die tiefrote Kategorie ein, die für eine Corona-Inzidenz von über 500 Fällen pro 100.000 Einwohner über 14 Tage steht.
Südtirol ist damit nach dem extremen Corona-Ausbruch in Portugal ein weiteres Beispiel dafür, was passieren kann, wenn die Eindämmungsmaßnahmen nicht streng genug durchgesetzt werden und sich eine neue Virusvariante verbreitet. Zudem gibt der Ausbruch Hinweise darauf, wie schwierig die Kontrolle der Pandemie auch bei breit angelegten Tests ist.
„Der Druck nimmt nicht ab“
Nachdem im vergangenen März ein Lockdown nötig geworden war, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, versuchte Südtirol in der zweiten Welle mit einem Sonderweg durchzukommen. Dass die Provinz dabei immer wieder von den Vorschriften abwich, die Italiens Regierung für das gesamte Land verfügte, liegt daran, dass Südtirol über eine starke administrative Autonomie verfügt. Sich von Rom abzusetzen gehört in Bozen zum guten Ton.
Der „Südtiroler Weg“sollte den Menschen ermöglichen, weiter ihrer Arbeit nachzugehen, zur Schule zu gehen und ihre Bewegungsfreiheit aufrechtzuerhalten.
Dieser Weg hätte bisher eingehalten werden können, weil „sehr, sehr viel getestet“worden sei, sagt nun Kompatscher. Aber: „Jetzt muss ich leider feststellen, dass trotz der vielen Tests der Druck nicht abnimmt. Die Situation in den Spitälern ist zwar noch nicht überwältigend, aber die Infektions- und Patientenzahlen steigen stetig, darum ist jetzt der Moment gekommen, einzugreifen.“So liegt die Auslastung der Krankenhäuser in Südtirol zwar erst bei rund 30 Prozent der Kapazitäten, die Tendenz ist jedoch steigend.
Der Südtiroler Sonderweg begann bereits im Oktober, als die Provinzregierung entschied, die neuen nationalen Maßnahmen nicht umzusetzen und etwa Kinos offen zu lassen und Restaurants erst um 22 Uhr – und nicht, wie von Rom vorgesehen, um 18 Uhr – zu schließen. Aber nur drei Tage später registrierte Südtirol eine der höchsten Infektionszahlen Italiens und schwenkte auf eine harte Linie um. Kompatscher sagte damals: „Wir bewegen uns auf der Linie von Deutschland und Österreich.“
Der Schlingerkurs mündete in einen flächendeckenden Coronatest, der, obwohl freiwillig, ein großer Erfolg wurde: Knapp 70 Prozent der Bevölkerung nahmen teil. Anschließend entstand der Eindruck, dass die Infektionsketten identifiziert und die Pandemie vorerst unter Kontrolle sei. Über die
Feiertage durften die Bürger sich daraufhin frei bewegen – im Gegensatz zum Rest des Landes, das einer komplizierten Choreografie folgte, die im Tageswechsel zwischen ganz hartem Lockdown und verschiedenen Lockerungen alterierte. Kompatschers Erklärung für die Öffnung enthielt einen Seitenhieb auf Rom: Die einheitlichen Maßnahmen über die Feiertage dienten dazu, dass „man nicht mit einem Kalender in der Tasche herumlaufen muss“.
Britische Mutante zirkuliert
Anfang des Jahres kam dann die Quittung: Das nationale Gesundheitsinstitut ISS ordnete Südtirol in seiner Coronatabelle in die rote, also gefährdetste Kategorie ein. Zwar blieb die Provinz gemäß ihres Sonderwegs bei lockereren Maßnahmen, doch schließlich knickte sie vergangene Woche ein. Dazu trug auch die Verbreitung der englischen Virusmutante bei, die, wie nun entdeckt wurde, seit mindestens einem Monat in Südtirol zirkuliert. Wie weit sie bereits verbreitet ist, ist zwar noch nicht klar. Aber ihre Präsenz reicht dafür aus, dass Kompatscher kein Risiko mehr eingehen will: „Leider haben die Covidvarianten den Fahrplan für den Ausstieg aus der Pandemie durcheinandergebracht.“
Zudem breitet sich im benachbarten Tirol die ansteckendere südafrikanische Mutante aus.