Präzedenz-Urteil gegen zwei Holocaust-Forscher
Polen. Ein Gericht verurteilte die Wissenschaftler Engelking und Grabowski zu einer öffentlichen Entschuldigung, weil sie einen Polen als Kollaborateur der Nazis porträtiert hatten. Kritiker sehen darin eine gefährliche Entwicklung.
Warschau. Ein schwarzer Tag für die Aufarbeitung der Shoa in Polen: Ein Warschauer Bezirksgericht hat am Dienstag die beiden renommierten Holocaust-Forscher Barbara Engelking und Jan Grabowski zu einer öffentlichen Entschuldigung an der Nichte eines Ortsvorstehers aus Ostpolen verurteilt. Filomena Leszczynska hatte die beiden wegen angeblichen Falschaussagen über ihren Onkel in dem 2018 veröffentlichten zweibändigen, wissenschaftlichen Mammutwerk „Und immer noch ist Nacht“verklagt.
Basierend auf jahrelangen Archivstudien präsentiert das von Engelking und Grabowski herausgegebene Buch von einem knappen Dutzend Forschern die Überlebensstrategien von Juden, die unter der Nazi-Besatzung aus Ghettos und deutschen Vernichtungslager entflohen waren. Leszczynska hatte die beiden Holocaust-Forscher als Herausgeber des über 1000-seitigen Werks geklagt.
Die wenige Textzeilen lange Passage und zwei Fußnoten stammen aus dem ersten Kapitel über den Bezirk Bielsk Podlaski, der von Engelking selbst verfasst worden ist. Leszczynska störte sich an zwei Aussagen, die angeblich nicht der Wahrheit über ihren Onkel entsprechen würden. Der damalige Ortsvorsteher Eduard Malinowski aus Malinowo bei Bielsk Podlaski sei ein Judenretter gewesen und habe keine Juden an die deutschen Besatzer verraten. Edelking hatte behauptet, der Mann sei mitschuldig am Tod von 20 Juden, die sich im Wald versteckt hatten. In einem Prozess nach dem Krieg war Malinowski freigesprochen worden, da eine jüdische Zeugin zu seinen Gunsten ausgesagt hatte.
Neben einer Entschuldigung hatte die heute 81-jährige Leszczynska auch 100.000 Zloty (umgerechnet knapp 23.000 Euro) Entschädigung gefordert. Diese müssen Engelking und Grabowski nun nicht bezahlen. Die Klägerin äußerte in einem Interview die Hoffnung, dass das Geld der Stiftung „Reduta. Festung des guten Namens – Liga gegen Verleumdung“, also einem „guten Zweck“zugutekomme.
Unmut über „Volksverräter“
Das Interview legte nahe, dass sie von der von besonders kämpferisch gesinnten rechtsnationalen Kreisen der Kaczyn´ski-Regierung geleiteten „Reduta“-Stiftung zu der Klage gedrängt worden war. „Reduta“will die Polen nur als Judenretter sehen. Indessen bekämpft sie Texte über Kollaboration von Polen mit dem deutschen Regime.
In dem 15-monatigen Prozess gegen Engelking und Grabowski betritt Leszczynskas Anwältin eines solches Ansinnen. „Es geht uns nur um die persönlichen Rechte von Frau Filomena, deren Onkel als Kollaborateur und Mörder identifiziert wurde“, beteuerte Monika Brzozowska-Pasieka.
Dass es der „Reduta“-Stiftung, die die Klägerin juristisch und finanziell unterstützt hatte und deren Anwälte die Klageschrift verfassten, nicht um die Persönlichkeitsrechte ging, zeigen wüste Angriffe von Anhängern der Regierungspartei PiS und rechtsnationalen Portalen gegen die Wissenschaftler, die an Engelkings Warschauer Holocaust-Forschungszentrum arbeiten. Sie beschimpften sie als „Volksverräter“und „Geschichtsverfälscher“. Zuerst hatten sie versucht, das Buch überhaupt zu verhindern.
Engelking hat der Vorverurteilung allerdings selbst Vorschub geleistet. In einer Zusatzdokumentation hatte sie nämlich vor dem Prozess zugegeben, zwei Dorfbewohner des gleichen Namens im Buch zu einem verwoben zu haben. Wer im Dorf rund 20 Juden, die sich in den Wäldern versteckt hatten, verriet, lässt sich heute kaum noch klären. Engelking erklärte: „Die Geschichte ist viel komplexer, als es PiS sehen möchte.“Das Urteil von Dienstag öffnet weiteren Prozessen gegen Holocaust-Forscher und andere Historiker jedenfalls Tür und Tor.