Warum Wien sich nie zu drehen aufgehört hat
Balltradition. Erfunden wurde selbst der Opernball nicht in Wien. Aber weder in Frankreich noch Italien wird dieser Brauch derart gelebt. Wie, das erzählt ein neues Buch von Wagner-Trenkwitz. Warum, das erklärt Historiker Martin Scheutz.
Der Saal war der schönste, reichste und glänzendste, in dem je ein Ball stattgehabt. (. . .) Von der Musik sei gesagt, dass das Repertoire acht Pi`ecen von Strauss unter dessen persönlicher Leitung enthielt. Die beste Leistung der gestrigen Ballnacht war ,An der schönen blauen Donau‘. Strauss, der schon bei seinem Erscheinen mit donnerndem Beifalls- und Jubelgeschrei empfangen worden war, wurde nach Beendigung des vortrefflich gespielten Walzers mit so stürmischem Applaus überschüttet, dass er das Stück wiederholen musste.“
Klingt doch nach Wien. Ist aber ein Bericht über den Pariser Opernball am 13. Jänner 1877. Erst elf Monate später fand die erste Wiener Hofopernsoiree´ statt. „Wie so vieles, was die Wiener glauben, erfunden zu haben, den Frack, die Operette, kommt eben auch der Opernball aus Frankreich“, weiß Christoph Wagner-Trenkwitz. Die Finte ist eine von mehreren im neuen Büchlein „Alles Walzer“(Amalthea-Verlag) des Chefdramaturgen der Wiener Volksoper, der den Opernball-Abend das erste Mal seit 20 Jahren mit seiner Frau verbringen wird, vor dem Fernseher noch dazu, wie er gesteht (ORF 2 zeigt statt des abgesagten Opernballs eine Reportage darüber).
So lang schon kommentiert WagnerTrenkwitz gemeinsam mit Karl Hohenlohe den Opernball im TV. Viele dabei erlebte und gelernte Geschichten brachte er nun in alphabetische Übersicht, von A wie Absage bis Z wie Stefan Zweig, der hier auch im Hinblick auf eine sehr lange Ballnacht zitiert wird: „Wie schön ist doch die Musik, aber wie schön erst, wenn sie vorbei ist . . .“
Tanzschulen, Cocktails, Hausbälle
Dass die Wiener Ballsaison samt ihrem weiten bürgerlichen Umfeld, samt Tanzschulen, privaten Cocktails, Haustänzen, nicht schon längst so tot ist wie in anderen Ländern mit großen Balltraditionen, etwa Italien, Frankreich oder England, ist erstaunlich. Seit dem Barock wurde sie nur von Kriegen unterbrochen. Zuletzt 1991 vom Golfkrieg. Derart radikal wie in diesem Epidemiejahr aber gab es seit den Jahren des Zweiten Weltkriegs kein Aussetzen des Faschings mehr.
Selbst die Pest konnte die Lust der Wiener an Vermummung und Tanz nicht völlig vernichten, auch wenn die Obrigkeit das im späten Mittelalter und früher Neuzeit durch Verbote versuchte – führten Maskierungen schließlich nicht selten zu Verbrechen, selbst Morden. Ab der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts verlagerte sich das Geschehen in Wien daher von der Straße, von wilden Faschingsumzügen, wie sie heute etwa noch in Köln gepflegt werden, in Häuser und Säle. Weiß Historiker Martin Scheutz, sozusagen der Wiener Faschingsexperte. Warum sich in Wien diese Tage doch gediegener als anderswo gestalten, würde er aus der Monarchie heraus erklären: Der Hof versuchte den Fasching als „potenziell gefährliche und unübersichtliche Zeit zu domestizieren. Außerdem trachteten die Eliten, sich ab dem 18. Jahrhundert auch stärker vom Lärm der Unterschichten zu distanzieren.“
Der Reichtum an Veranstaltungen, den der Adel im 16., 17. und 18. Jahrhundert im Fasching pflegte, ist im Vergleich zu heute dennoch enorm: Turniere fanden statt, Faschingsopern wurden einstudiert, es gab Schlittenfahrten, „Krapfenschießen“, Kinderbälle und „Wirtschaften“. Letzteres waren streng ritualisierte und hierarchisierte
Abendessen in kleinstem elitären Kreis, bei denen das Kaiserpaar in Verkleidung empfing. Aber auch Nachdenkliches war erwünscht – „Akademien“, in deren Rahmen auf Initiative von Erzherzog Leopold Wilhelm ab 1656 nach vermutlich italienischem Vorbild Männer vorgegebene Themen wie Einsamkeit oder Liebe diskutierten.
Maria Theresia liebte die Verkleidung
Eine Blüte erlebte der Wiener Fasching in der Zeit Maria Theresias, die ihrem geliebten Franz Stephan keinen Wunsch, auch nicht den nach Maskenbällen, also Redouten, abschlagen konnte. Sie gewährte für Hoffeste ab 1743 Maskenfreiheit, was laut zeitgenössischen Kommentatoren „Liebesintrigen und Avancen“Vorschub leistete, und ließ das Hoftheater zum Redoutensaal umbauen. Nach dem Tod des Gatten erlosch ihr Interesse. Ihr Sohn Josef II. öffnete die (nicht am Hofe) stattfindenden Bälle – die
Bezeichnung hatte sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt, vom französischen „baller“, tanzen, abgeleitet – dann für alle Zahlenden.
Einiges später, 1890, wurde mit dem „Ball der Stadt Wien“, initiiert von Bürgermeister Karl Lueger, eine Tradition begründet, die heute wohl im Life Ball ihre Entsprechung findet. Die Wurzeln des von den Besuchern her doch mehr internationalen als Wiener Opernballs dagegen gehen auf den „tanzenden“Wiener Kongress 1814/15 zurück, als Künstler der Hofoper Tanzveranstaltungen abhielten, schreibt WagnerTrenkwitz. Man frönte schon Frühformen des Walzers – immerhin, der wurde zumindest wirklich in Wien erfunden.
Den „Kleinen Opernball“, wie das Verfolgen des TV-Ereignisses in voller Ballmontur genannt wird, sieht Wagner-Trenkwitz heuer übrigens vom „Ganz kleinen Opernball“abgelöst: mit Sekt zu Hause sitzen und sich gegenseitig aus seinem Buch vorlesen.