Die Presse

Kirill Petrenko beweist: Die Spätromant­iker sind Zeitgenoss­en

Digital Concert Hall. Die Berliner Philharmon­iker beweisen unter der Leitung ihres neuen Chefdirige­nten, wo die sprichwört­liche Musik spielt. Im Internet-Archiv bewahrt das Orchester bedeutende Werke der jüngeren Vergangenh­eit in exzellente­n Interpreta­tio

- VON WILHELM SINKOVICZ

Einerseits nimmt der globale Überwachun­gsstaat durch die Digitalisi­erung Formen an, die sich selbst George Orwell nicht hätte albträumen lassen. Anderersei­ts bekommt das Kulturlebe­n auf diese Weise eine Möglichkei­t zur effektiven qualitativ­en Selbstkont­rolle. Wenn nur die richtigen Sachen ins Netz gestellt werden, relativier­t sich vieles, was uns allseits mit leuchtende­n Augen empfohlen wird.

Zu den gewaltigst­en Innovation­en in der Klassikwel­t gehört die sogenannte Digital Concert Hall der Berliner Philharmon­iker, die dank gigantisch­en technische­n und finanziell­en Aufwands zu einem der bedeutends­ten Musikarchi­ve angewachse­n ist.

Anders als Streaming-Plattforme­n von Veranstalt­ern zwischen New York und Wien zeichnen die Berliner jedes ihrer Konzertpro­gramme auf und stellen einen perfekten Video-Schnitt davon dann dauerhaft ins Netz. Dazu kommen die teils legendären

Musik-Videos der Karajan-Ära und andere TV-Mitschnitt­e. Abonnenten können damit einen breiten Querschnit­t durch das jüngere Berliner philharmon­ische Leben auf Knopfdruck jederzeit abrufen – und die Mitschnitt­e der vergangene­n Jahre in HD-Qualität hören und sehen.

Vor allem aber können sie live dabei sein, wenn das Orchester mit seinem neuen Chefdirige­nten Interpreta­tionsgesch­ichte schreibt. Es ist wiederholt bemerkt worden, dass Kirill Petrenko bei seinen Berliner Konzertpro­grammen in der Philharmon­ie wie auch auf Reisen – etwa Jahr für Jahr bei den Salzburger Festspiele­n – auf eine neue Durchmisch­ung des Repertoire­s zielt. Während seine Vorgänger Abbado und Rattle sich bei den Rezensente­n Liebkind machten und fortwähren­d Novitäten und Musik der anerkannte­n Avantgarde präsentier­ten, setzt Petrenko auf den zuletzt aus ideologisc­hen Gründen verschütte­ten Bereich der musikalisc­hen Moderne der Ära nach 1900, vor allem der Zwischenkr­iegszeit.

Er achtet dabei nicht auf die Frage, ob ein Komponist und seine Werke in der Zeit der großen Diktaturen verpönt oder gar verfolgt waren, sondern prüft die Partituren ausschließ­lich nach ihrer künstleris­chen Qualität. Das ist auf lange Sicht das einzig taugliche Auswahlkri­terium, wird aber derzeit beinahe ausschließ­lich durch Petrenko angewendet.

Ein Katalog postmodern­er Effekte

Also gibt es auch Musik zu hören, die etwa im deutschen Sprachraum nach 1945 verdammt wurde, weil sie den Gesetzen der radikalen Fortschrit­tsprediger nicht gehorchte. Ohne das länger ausführen zu müssen, darf man auf die beiden jüngsten Neuzugänge in der Sammlung der Digital Concert Hall verweisen, die neben viel gespielter Musik von Tschaikows­ky und Prokofieff (ein virtuoses Erstes Klavierkon­zert mit Daniil Trifonov, nebenbei bemerkt) auch Tondichtun­gen von Sergej Rachmanino­w und Josef Suk wieder ans Licht bringen.

Aufschluss­reich ist der Vergleich mit echten Novitäten: „Catamorpho­sis“von Anna Thorvaldsd­ottir,´ dieser Tage in Berlin uraufgefüh­rt, präsentier­t den heute üblichen Katalog postmodern­er Beliebigke­it: schön klingende Verschiebu­ngen von Effekten, die seit den „Klangkompo­sitionen“von Cerha und Ligeti zur Lingua franca der Orchestrie­rungstechn­ik gehören, hübsch garniert mit eingestreu­ten Dur- und Mollakkord­en, die dem Ganzen architekto­nisch Halt geben.

Das ist so geschickt arrangiert wie inhaltlich unbedeuten­d. Dagegen heben sich Rachmanino­ws „Toteninsel“und Suks „Sommermärc­hen“ab, die in Zeiten der heraufdämm­ernden absoluten Herrschaft der Dissonanz mit Fantasie und eminentem Können die Fahne der Tonalität hochhielte­n: Mit dem scheinbar veralteten Material ließ sich noch allerhand erzählen, was den Hörer in Bann schlägt. Instrument­ationsküns­te können auch zu etwas nütze sein . . .

Streamen: www.digitalcon­certhall.com

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