Apologie des öffentlichen Rechts
Gastbeitrag. Gedanken über Demonstrationsverbote, den liberalen Rechtsstaat und den Zusammenhang zwischen Zweck und Mittel.
Als besorgter Bewohner des ersten Bezirks beobachtete ich am vorvergangenen Sonntag die unangemeldeten AntiCorona-Demonstrationen. Ich gestehe, dass ich neugierig war zu sehen, wer denn so daran teilnahm. Es mag sein, dass ich kein gutes Auge für politische Symbole habe, aber unter den Marschierenden konnte ich keinen Neonazi entdecken. Ich will nicht abstreiten, dass welche dort waren (vertrauenswürdige Medien haben das berichtet), aber sie dominierten nach meinem Eindruck nicht. Vielmehr erschien es mir, als seien viele frustrierte Menschen unterwegs gewesen, die ihrem Ärger oder ihrer Verbitterung ein wenig Luft machen wollten. Natürlich schloss ich mich ihnen nicht an. Ich beuge mich zähneknirschend allen Maßnahmen, weil ich sie für vernünftig halte. Ich bin ein Professor. Vernunft ist für mich Pflicht. Aber dennoch war ich erfreut darüber, in einer Gesellschaft zu leben, in der Menschen es sich nicht nehmen lassen, ihre Kritik öffentlich deutlich zu machen. Deswegen konnte ich es auch nicht lassen, den unten stehenden Text zu verfassen. Gute Freunde warnen mich freilich davor, ich solle mich nicht mit den Rechten gemein machen, indem ich für die Versammlungsfreiheit eintrete. Aber es geht nicht um rechts, links oder die „verlorene Mitte“. Worum es mir geht, ist der Wert des öffentlichen Rechts.
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Die Gesundheit ist ein hohes Gut. Die Regierung hat sie zu schützen. Dabei ist klug vorzugehen, und die Klugheit betrifft die Wahl der Mittel. Zu den bewährten Mitteln, die Gesundheit zu schützen, gehört die Vermeidung von Krankheiten. Ihnen lässt sich vorbeugen, etwa indem man Menschen impft.
Das ist einfach. Weniger einfach ist die Frage zu beantworten, mit welchem Ziel in diesem Kontext eine Regierung Freiheitsbeschränkungen rechtfertigen kann.
Je weniger bestimmt das Ziel ist, desto mehr Mittel kommen in Betracht, dieses zu erreichen. Der Staat will die „Volksgesundheit“schützen. Das kann vieles heißen und so manche Zielsetzung einschließen. Daher mag der Staat etwa Impfpflichten anordnen oder es den Krankenversicherungen erlauben, von jenen Menschen höhere Prämien zu verlangen, die ungesund leben. Maßnahmen dieser Art dienen – vermittels Zwangs oder über Anreize – der Gesundheit.
Werden die Ziele konkreter formuliert, stellen sich die Zusammenhänge mit den Mitteln enger dar. Erwöge die Regierung, das Kauen von Kaugummi zu verbieten, um Ohrenschmerzen vorzubeugen, wäre ein solches Verbot rational, wenn ein kausaler Zusammenhang zwischen beiden bestünde. Dieser wäre deutlicher ausgeprägt als jener zwischen einem „gesunden Lebensstil“und der Vermeidung von Krankheiten.
Mit Blick auf Kausalzusammenhänge erklärt sich, weshalb
ein sogenannter Rationalitätstest zu den elementaren Analyseverfahren des öffentlichen Rechts zählt. Der dahinterstehende normative Grundsatz ist bestechend einfach. Einer Politik, die kein legitimes Ziel verfolgt, müssen wir unsere Freiheit nicht opfern. Eine solche Politik würde bloß das illegitime Ziel erreichen, uns zu unterdrücken. Das ist der elementare Grundsatz. Auf ihn baut das öffentliche Recht auf, wenn der Schutz der Grundrechte ansteht. In diesem Kontext wird verlangt, dass die Zweck-Mittel-Zusammenhänge eng gezogen werden. Andernfalls fiele der Zweckverfolgung zu viel Freiheit zum Opfer.
Wie viel Schutz der Gesundheit?
Demonstrationsverbote werden momentan mit Hinweis auf den Schutz der Gesundheit begründet. Aus der Sicht des öffentlichen Rechts greift eine solche Rechtfertigung zu kurz. Mit Hinweis auf die Gefährdung der Gesundheit ließe sich rechtfertigen, jegliche Zusammenkunft von Menschen zu untersagen. Denn: Wo immer Menschen zusammenkommen, könnte etwas passieren. Aber ein allgemeines Zusammenkunftsverbot darf natürlich nicht sein. Das Ziel muss daher konkreter formuliert werden und die Zweck-Mittel-Beziehung deutlicher hervortreten.
Man mag vermuten, Demos dürften untersagt werden, um die Zunahme von Ansteckungen zu vermeiden. Wird dieser ZweckMittel-Zusammenhang ins Auge gefasst, stellt sich die Frage, ob es im Vergleich zum Verbot nicht ein gelinderes – freiheitsschonenderes – Mittel gibt, Ansteckungen zu vermeiden. In der Tat empfiehlt sich sofort als Alternative die Abhaltung von Versammlungen unter Auferlegung einer Maskenpflicht und dem Einhalten eines Mindestabstands von zwei Metern.
Die Demonstrierenden murren aber, wenn ihnen Derartiges abverlangt wird. Sie murren aus einem begreiflichen Grund. Die scheinbar verhältnismäßigere Maßnahme gestattet es ihnen nicht, ihre Botschaft angemessen zu artikulieren. Wem kann man denn zumuten, gegen die Überflüssigkeit des Maskentragens mit Maske zu demonstrieren? Von welcher Person kann man erwarten, wenn sie auf die Straße geht, um öffentlich zu zeigen, dass sie ein freier Mensch ist, das Symbol ihrer Unfreiheit zu tragen?
Die Gegenüberstellung des Ziels und der Intensität des Freiheitseingriffs macht es notwendig, den Zweck-Mittel-Zusammenhang erneut zu kalibrieren. Die Ziele müssen sich im Verhältnis zum Eingriff als legitim erweisen. Ist das Vermeiden von Ansteckungen ein legitimes Ziel angesichts der Konsequenz, dass Demonstrierende sich nicht frei artikulieren können, wenn sie sich wegen Abstandund Maskenpflichten diesem Ziel beugen müssen? Es ist dies nicht, und zwar schon deswegen nicht, weil unsere Gesellschaft radikal anders wäre, wenn jegliche Ansteckungen – also nicht nur im Fall von Covid-19 – durch öffentliche Maßnahmen vermieden würden. Die Ansteckungsgefahr gehört zum täglichen Leben.
Also muss, um Einschränkungen begründen zu können, das Ziel enger bestimmt werden, nämlich mit Blick auf die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems. Hier stößt man nun an den Punkt, an dem sich eine genuin liberale von einer nicht so liberalen Strategie abscheidet. Die Letztere verdächtigt Demonstrierende von vornherein des unverantwortlichen Verhaltens. Begründet wird diese Furcht mit Vorhersagemodellen von „Experten“. Aber Experten arbeiten wissenschaftlich, und die Wissenschaft erkennt man an Kontroversen. Aus genuin liberaler Sicht wäre daraus der Schluss zu ziehen, dass man es darauf ankommen lassen und sich die aktuellen Fakten ansehen müsse, weil die politische Meinungsäußerung auch und gerade dann von großem Wert für die Demokratie ist, wenn uns ihre Ausübung inhaltlich nicht passt. Man sollte Demonstrationen zulassen und deren Effekt untersuchen. Erst wenn die Ansteckungen dramatisch anstiegen, dürften alle Versammlungen untersagt werden. Dann könnte endlich geschehen, wovon Putativliberale träumen: der Einsatz von Tränengas und Massenverhaftungen gegen die Unvernunft der Teilnehmer an spontanen Kundgebungen.
Vor dem liberalen Rechtsstaat ist die öffentliche Gesundheit allein kein legitimes Eingriffsziel, so wenig wie das Vermeiden von Ansteckung. Wären sie es, wäre unsere Gesellschaft nicht frei. Und man muss beileibe kein Sympathisant mit Rechtsradikalen sein, um das zu begreifen und auszusprechen.