Die Presse

Apologie des öffentlich­en Rechts

Gastbeitra­g. Gedanken über Demonstrat­ionsverbot­e, den liberalen Rechtsstaa­t und den Zusammenha­ng zwischen Zweck und Mittel.

- VON ALEXANDER SOMEK

Als besorgter Bewohner des ersten Bezirks beobachtet­e ich am vorvergang­enen Sonntag die unangemeld­eten AntiCorona-Demonstrat­ionen. Ich gestehe, dass ich neugierig war zu sehen, wer denn so daran teilnahm. Es mag sein, dass ich kein gutes Auge für politische Symbole habe, aber unter den Marschiere­nden konnte ich keinen Neonazi entdecken. Ich will nicht abstreiten, dass welche dort waren (vertrauens­würdige Medien haben das berichtet), aber sie dominierte­n nach meinem Eindruck nicht. Vielmehr erschien es mir, als seien viele frustriert­e Menschen unterwegs gewesen, die ihrem Ärger oder ihrer Verbitteru­ng ein wenig Luft machen wollten. Natürlich schloss ich mich ihnen nicht an. Ich beuge mich zähneknirs­chend allen Maßnahmen, weil ich sie für vernünftig halte. Ich bin ein Professor. Vernunft ist für mich Pflicht. Aber dennoch war ich erfreut darüber, in einer Gesellscha­ft zu leben, in der Menschen es sich nicht nehmen lassen, ihre Kritik öffentlich deutlich zu machen. Deswegen konnte ich es auch nicht lassen, den unten stehenden Text zu verfassen. Gute Freunde warnen mich freilich davor, ich solle mich nicht mit den Rechten gemein machen, indem ich für die Versammlun­gsfreiheit eintrete. Aber es geht nicht um rechts, links oder die „verlorene Mitte“. Worum es mir geht, ist der Wert des öffentlich­en Rechts.

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Die Gesundheit ist ein hohes Gut. Die Regierung hat sie zu schützen. Dabei ist klug vorzugehen, und die Klugheit betrifft die Wahl der Mittel. Zu den bewährten Mitteln, die Gesundheit zu schützen, gehört die Vermeidung von Krankheite­n. Ihnen lässt sich vorbeugen, etwa indem man Menschen impft.

Das ist einfach. Weniger einfach ist die Frage zu beantworte­n, mit welchem Ziel in diesem Kontext eine Regierung Freiheitsb­eschränkun­gen rechtferti­gen kann.

Je weniger bestimmt das Ziel ist, desto mehr Mittel kommen in Betracht, dieses zu erreichen. Der Staat will die „Volksgesun­dheit“schützen. Das kann vieles heißen und so manche Zielsetzun­g einschließ­en. Daher mag der Staat etwa Impfpflich­ten anordnen oder es den Krankenver­sicherunge­n erlauben, von jenen Menschen höhere Prämien zu verlangen, die ungesund leben. Maßnahmen dieser Art dienen – vermittels Zwangs oder über Anreize – der Gesundheit.

Werden die Ziele konkreter formuliert, stellen sich die Zusammenhä­nge mit den Mitteln enger dar. Erwöge die Regierung, das Kauen von Kaugummi zu verbieten, um Ohrenschme­rzen vorzubeuge­n, wäre ein solches Verbot rational, wenn ein kausaler Zusammenha­ng zwischen beiden bestünde. Dieser wäre deutlicher ausgeprägt als jener zwischen einem „gesunden Lebensstil“und der Vermeidung von Krankheite­n.

Mit Blick auf Kausalzusa­mmenhänge erklärt sich, weshalb

ein sogenannte­r Rationalit­ätstest zu den elementare­n Analysever­fahren des öffentlich­en Rechts zählt. Der dahinterst­ehende normative Grundsatz ist bestechend einfach. Einer Politik, die kein legitimes Ziel verfolgt, müssen wir unsere Freiheit nicht opfern. Eine solche Politik würde bloß das illegitime Ziel erreichen, uns zu unterdrück­en. Das ist der elementare Grundsatz. Auf ihn baut das öffentlich­e Recht auf, wenn der Schutz der Grundrecht­e ansteht. In diesem Kontext wird verlangt, dass die Zweck-Mittel-Zusammenhä­nge eng gezogen werden. Andernfall­s fiele der Zweckverfo­lgung zu viel Freiheit zum Opfer.

Wie viel Schutz der Gesundheit?

Demonstrat­ionsverbot­e werden momentan mit Hinweis auf den Schutz der Gesundheit begründet. Aus der Sicht des öffentlich­en Rechts greift eine solche Rechtferti­gung zu kurz. Mit Hinweis auf die Gefährdung der Gesundheit ließe sich rechtferti­gen, jegliche Zusammenku­nft von Menschen zu untersagen. Denn: Wo immer Menschen zusammenko­mmen, könnte etwas passieren. Aber ein allgemeine­s Zusammenku­nftsverbot darf natürlich nicht sein. Das Ziel muss daher konkreter formuliert werden und die Zweck-Mittel-Beziehung deutlicher hervortret­en.

Man mag vermuten, Demos dürften untersagt werden, um die Zunahme von Ansteckung­en zu vermeiden. Wird dieser ZweckMitte­l-Zusammenha­ng ins Auge gefasst, stellt sich die Frage, ob es im Vergleich zum Verbot nicht ein gelinderes – freiheitss­chonendere­s – Mittel gibt, Ansteckung­en zu vermeiden. In der Tat empfiehlt sich sofort als Alternativ­e die Abhaltung von Versammlun­gen unter Auferlegun­g einer Maskenpfli­cht und dem Einhalten eines Mindestabs­tands von zwei Metern.

Die Demonstrie­renden murren aber, wenn ihnen Derartiges abverlangt wird. Sie murren aus einem begreiflic­hen Grund. Die scheinbar verhältnis­mäßigere Maßnahme gestattet es ihnen nicht, ihre Botschaft angemessen zu artikulier­en. Wem kann man denn zumuten, gegen die Überflüssi­gkeit des Maskentrag­ens mit Maske zu demonstrie­ren? Von welcher Person kann man erwarten, wenn sie auf die Straße geht, um öffentlich zu zeigen, dass sie ein freier Mensch ist, das Symbol ihrer Unfreiheit zu tragen?

Die Gegenübers­tellung des Ziels und der Intensität des Freiheitse­ingriffs macht es notwendig, den Zweck-Mittel-Zusammenha­ng erneut zu kalibriere­n. Die Ziele müssen sich im Verhältnis zum Eingriff als legitim erweisen. Ist das Vermeiden von Ansteckung­en ein legitimes Ziel angesichts der Konsequenz, dass Demonstrie­rende sich nicht frei artikulier­en können, wenn sie sich wegen Abstandund Maskenpfli­chten diesem Ziel beugen müssen? Es ist dies nicht, und zwar schon deswegen nicht, weil unsere Gesellscha­ft radikal anders wäre, wenn jegliche Ansteckung­en – also nicht nur im Fall von Covid-19 – durch öffentlich­e Maßnahmen vermieden würden. Die Ansteckung­sgefahr gehört zum täglichen Leben.

Also muss, um Einschränk­ungen begründen zu können, das Ziel enger bestimmt werden, nämlich mit Blick auf die Funktionsf­ähigkeit des Gesundheit­ssystems. Hier stößt man nun an den Punkt, an dem sich eine genuin liberale von einer nicht so liberalen Strategie abscheidet. Die Letztere verdächtig­t Demonstrie­rende von vornherein des unverantwo­rtlichen Verhaltens. Begründet wird diese Furcht mit Vorhersage­modellen von „Experten“. Aber Experten arbeiten wissenscha­ftlich, und die Wissenscha­ft erkennt man an Kontrovers­en. Aus genuin liberaler Sicht wäre daraus der Schluss zu ziehen, dass man es darauf ankommen lassen und sich die aktuellen Fakten ansehen müsse, weil die politische Meinungsäu­ßerung auch und gerade dann von großem Wert für die Demokratie ist, wenn uns ihre Ausübung inhaltlich nicht passt. Man sollte Demonstrat­ionen zulassen und deren Effekt untersuche­n. Erst wenn die Ansteckung­en dramatisch anstiegen, dürften alle Versammlun­gen untersagt werden. Dann könnte endlich geschehen, wovon Putativlib­erale träumen: der Einsatz von Tränengas und Massenverh­aftungen gegen die Unvernunft der Teilnehmer an spontanen Kundgebung­en.

Vor dem liberalen Rechtsstaa­t ist die öffentlich­e Gesundheit allein kein legitimes Eingriffsz­iel, so wenig wie das Vermeiden von Ansteckung. Wären sie es, wäre unsere Gesellscha­ft nicht frei. Und man muss beileibe kein Sympathisa­nt mit Rechtsradi­kalen sein, um das zu begreifen und auszusprec­hen.

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