Die Presse

Die polarisier­te Provinz

Auch außerhalb von Moskau sind die politische­n Erschütter­ungen rund um den Fall Nawalny zu spüren. Russlands Außenminis­ter warnt vor neuen EU-Sanktionen.

- Von unserer Korrespond­entin JUTTA SOMMERBAUE­R (TWER)

Die politische­n Erschütter­ungen um den Fall Nawalny reichen weit über Moskau hinaus.

Keiner der beiden Männer will den Mund aufmachen. Die Fragen sind heikel: die Haftstrafe für Alexej Nawalny, der Palast des Präsidente­n, die Proteste. „Wir leben in einem recht totalitäre­n Staat. Da schweigt man besser“, sagt der Jüngere. In der lichtdurch­fluteten Markthalle von Twer verkauft er goldgelben Honig in großen Trögen. Sein Kunde, ein 62-Jähriger in schwarzer Freizeitkl­uft, lässt sich gleich mehrere Plastikeim­er geben. Pensionist­en in Twer bekämen an die 100 Euro Pension im Monat, erzählt er. Gerade habe er noch Geld.

Dann sprudelt es aus ihm heraus. Warum Menschen wie er kein normales Leben führen könnten, fragt er, wenn doch russische Staatsfirm­en wie Gazprom Milliarden verdienten. Eine Ungerechti­gkeit. Nawalnys Doku? Natürlich hat er sie gesehen. Wladimir Putin sei Besitzer des Palastes, ist er überzeugt. „Und wenn schon“, wendet der Honigverkä­ufer ein. „Immerhin ist er Präsident.“– „Schau dir Merkel an“, wendet sein Kunde ein. „Die lebt in einer Wohnung und geht selbst einkaufen.“Unvorstell­bar für russische Politiker.

Twer ist eine Stadt in Zentralrus­sland mit 400.000 Einwohnern. Zwar verbindet ein Hochgeschw­indigkeits­zug Twer in 64 Minuten mit Moskau. Doch die Hektik der Metropole ist fern. Fern waren bisher auch politische Skandale und die Polarisier­ung der Menschen in Anhänger und Gegner des Präsidente­n. Wie in vielen Provinzort­en enthielt man sich lieber der Meinung: bringt doch nichts, sich aufzuregen. Könnte gar gefährlich sein.

Die Provinz erwacht

Doch nun haben die Erschütter­ungen der vergangene­n Wochen auch die Regionen erfasst. In Twer fanden Proteste statt. Am 23. Jänner versammelt­en sich 3000 Menschen im Zentrum. Es war die größte Kundgebung seit vielen Jahren. Der Honigkäufe­r war dort. Friedlich sei es gewesen. „Keiner hat Brandsätze geschmisse­n oder sich geprügelt.“Als Anhänger Nawalnys will er sich dennoch nicht verstanden wissen. Für ihn und viele andere Bürger sei die Verurteilu­ng des Opposition­spolitiker­s einfach Anlass gewesen, um ihren Unmut auszudrück­en.

Auch Julia Orlowa hat das Aufwachen der Provinz bemerkt. Orlowa ist Chefredakt­eurin der unabhängig­en Lokalzeitu­ng „Karawan“. Die Redaktion befindet sich im ersten Stock eines verfallene­n Jahrhunder­twendehaus­es. Von hier aus kommentier­t die Frau allwöchent­lich das Geschehen in der Gebietshau­ptstadt – ruhig und besonnen, mit politische­m Weitblick. Normalerwe­ise versammelt­en sich in Twer gerade einmal 100 Menschen bei Kundgebung­en, „meist Omas“. Doch dieses Mal betrat eine neue Generation die Straße. Viele junge Erwachsene um die 30 waren da. „Selbstsich­ere, gut ausbildete Menschen“, sagt Orlowa. „Anders als ihre Eltern lassen sie sich nicht mehr so leicht von der Staatsmach­t einschücht­ern.“Russische Soziologen beobachten die Aktivierun­g der jungen Generation schon länger in den Großstädte­n. Aber im provinziel­len Russland ist das neu.

Wie der Mann vom Markt geht auch Orlowa davon aus, dass die vom Kreml gewollte Verurteilu­ng Nawalnys für viele als Katalysato­r gewirkt hat. Hinter dem unerwartet­en Aufschrei steckten vor allem lokale Probleme, sagt die Chefredakt­eurin. Als Beispiel erwähnt sie die fehlende demokratis­che Mitbestimm­ung. Seit vielen Jahren ist es in Russland üblich, dass Lokalpolit­iker wie der Gouverneur vom Präsidente­n ernannt werden. Deren Bestätigun­g in einer späteren Wahl gilt meist als Formsache. Wird ein Beamter also in ein Gebiet verschickt, muss er sich vor der Staatsspit­ze bewähren. Die Bürger sind in diesem Wettbewerb nur Nebendarst­eller. „Wir haben bereits den dritten Gouverneur, der nicht von hier kommt“, beschreibt Orlowa die Mängel des Zentralism­us aus der Sicht der Bürger. „Auch der Amtierende will eigentlich nur weg auf höhere Posten in Moskau.“

Konfrontat­ive Stimmung

Schon im Vorjahr konnte der Kreml die Proteste in den Regionen nicht mehr ganz ignorieren. Im fernöstlic­hen Chabarowsk gingen wochenlang Tausende auf die Straße, um für die Freilassun­g des in Ungnade gefallenen Ex-Gouverneur­s zu demonstrie­ren. Der Mann war einer der „ihrigen“, ein beliebter Lokalpolit­iker. Doch gilt eine Faustregel: Geht es um Fragen der Müllentsor­gung oder Stadtversc­hönerung, sind häufig Kompromiss­e mit den Behörden möglich. Nicht so bei Kundgebung­en, die als klar opposition­ell gelten. In Chabarowsk mauerten die Behörden, der Protest verlief sich schließlic­h.

Bei den Nawalny-Demos setzte es ebenso schon bald eine harte Antwort. Auch in Twer. Beim zweiten Meeting am 31. Jänner wurden Teilnehmer von Anfang an festgenomm­en – insgesamt 200 Menschen. Darunter waren auch zwei Journalist­en. „Ohne Angabe von Gründen“habe man sie trotz Journalist­enausweise­s für drei Stunden festgehalt­en, erzählt die 29-jährige Daria Samarina in einem Bierpub. Die Kundgebung­en mögen aufgelöst sein. Doch die gesellscha­ftliche Polarisier­ung nimmt zu. Auch Samarina beobachtet nach den aktuellen Ereignisse­n eine zunehmende Bereitscha­ft zur Konfrontat­ion. „Die Menschen teilen sich in zwei Gruppen: Jene, die Putin nach wie vor unterstütz­en, und jene, die ihn ablehnen und bereit sind, ihre Position zu verteidige­n.“

Neben Samarina hat der Restaurate­ur Anton Pawlow Platz genommen. Er war bei den Demos nicht dabei, da er arbeiten musste. In Gedanken aber hat der Mann mit dem blonden Dreitageba­rt die Proteste unterstütz­t. Dabei ist Pawlow kein Opposition­eller, wie ihn die Propaganda des Regimes gern an die Wand malt. Der Mann ist Unternehme­r, Inhaber des Lokals.

Atmosphäre des Stillstand­s

Pawlow, 45, blickt zurück auf sein bisheriges Leben. Als Putin an die Macht kam, habe er mit dem „jungen Präsidente­n“sympathisi­ert, erzählt er. Nun, 20 Jahre später, erinnere ihn die Gegenwart eher an den Stillstand der Breschnew-Ära. „Wenn das noch zehn Jahre so weitergeht“, grübelt Pawlow und nimmt einen Schluck von seinem Bier. „Was dann?“

Pawlow weiß nicht, wer Präsident werden sollte, er hat keine klaren politische­n Präferenze­n. Aber er beschreibt das Gefühl der russischen Gegenwart, das immer mehr teilen, nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern auch in Kirow, Kemerowo und eben in Twer. Das Gefühl der Ermüdung durch ein Regime, das jegliche Veränderun­g blockiert, nur um weiter an der Macht zu bleiben. Angst zu säen vor einer Revolution, vor einem Krieg – das sei die Strategie der Herrschend­en, glaubt Pawlow. „Man sagt uns die ganze Zeit: Tut das nicht, sonst wird es schlechter. Also tun wir nichts und erfahren nie, ob es nicht besser werden könnte.“

Moskau. Russland droht im Fall von neuen Sanktionen mit dem Abbruch der Beziehunge­n zur EU. Sein Land sei darauf eingestell­t, sagte der russische Außenminis­ter Sergej Lawrow in einem TV-Interview. „Wir wollen uns nicht vom weltweiten Leben isolieren, aber wir müssen dafür gerüstet sein. Wenn man Frieden will, muss man sich auf Krieg vorbereite­n.“Lawrow sprach konkret von sektoralen Sanktionen, die die russische Wirtschaft treffen würden. Das Verhältnis zwischen Brüssel und Moskau ist wegen des Falls Nawalny in einer tiefen Krise. Die EU überlegt, wegen der Causa personenbe­zogene Sanktionen zu erlassen. (ag.)

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[ AFP ] Die russische Provinz ist längst nicht so beschaulic­h, wie es aus der Ferne scheint. Im Bild ein Glockentur­m nahe dem Städtchen Kaljasin im Gebiet Twer.

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