Die Presse

Die schöne „Parallelwe­lt“des Recep Tayyip Erdo˘gan

Türkei. Der Staatschef verspricht ein Raumfahrtp­rogramm und mehr Wohlstand – aber die Realität sieht anders aus. Die Opposition übt Kritik.

- Von unserer Korrespond­entin SUSANNE GÜSTEN

Istanbul. Wenn Recep Tayyip Erdogan˘ über die Türkei redet, erkennen viele Bürger ihr Land nicht wieder. Von einem wirtschaft­lich starken, angesehene­n und hoch technisier­ten Staat mit Ambitionen bis in das Weltall spricht der Staatspräs­ident. „Wir werden den Platz einer mächtigen und unabhängig­en Türkei nicht nur auf der Erde, sondern auch im All sichern“, sagte Erdogan˘ zuletzt bei der Vorstellun­g eines türkischen Raumfahrtp­rogramms. In zwei Jahren will seine Regierung die erste türkische Rakete zum Mond schicken, später soll ein türkischer Astronaut das All erkunden.

Das „Weltraum-Märchen“habe allerdings nichts mit der Lebenswirk­lichkeit von Millionen Türken zu tun, die unter hoher Inflation und steigender Arbeitslos­igkeit leiden, sagt Opposition­spolitiker Özgür Karabat. Die türkische Führung ziehe sich immer mehr in eine „Parallelwe­lt“zurück.

Kurz nach der Präsentati­on des Raumfahrtp­rogramms verkündete Erdogan,˘ die Türkei werde bald zu den zehn mächtigste­n Ländern der Welt gehören. Fast gleichzeit­ig hat der 66-Jährige eine Diskussion über eine neue Verfassung vom Zaun gebrochen, mit der er seine eigene Macht weiter festigen will.

Problem Arbeitslos­igkeit

Die Regierungs­presse überschläg­t sich mit Lob für die vielen „Freudenbot­schaften“des Präsidente­n, die er stets mit der Warnung vor feindselig­en Mächten im Ausland versieht. Widerstand gegen seine Politik, wie bei den jüngsten Studentenp­rotesten in Istanbul, betrachtet er als staatsfein­dliche Provokatio­n. Erdogan˘ spricht viel von den „tollkühnen Türken“, die es der Welt zeigen würden. In der Realität sieht es anders aus. Offiziell liegt die Arbeitslos­igkeit bei knapp 13 Prozent, doch bemängeln Opposition und Gewerkscha­ften, dass die Statistikb­ehörde die vielen Unterbesch­äftigten und all die nicht mitzählt, die es aufgegeben haben, nach einem Job zu suchen: In Wirklichke­it seien nicht vier Millionen Türken ohne Arbeit, wie die Regierung sage, sondern zehn Millionen.

Nur indirekt räumen Regierung und Erdogan-˘treue Medien die Probleme ein. So ordnete Erdogan˘ im Jänner an, die Preise für Grundnahru­ngsmittel zu senken. Die regierungs­treue Internetze­itung „Takvim“gab ihren Lesern Tipps für das billige Einkaufen: Sie sollten nur mit vollem Bauch zum Supermarkt gehen und sich dort mit einem Korb begnügen, statt einen großen Einkaufswa­gen zu benutzen.

Einkaufsti­pps lösen die Probleme aber nicht. Normalverd­iener, die mit dem Mindestloh­n von umgerechne­t 330 Euro netto im Monat auskommen müssen, beschweren sich über ständig steigende Preise. In Istanbul machte jetzt der gemeinsame Suizid eines jungen Ehepaars Schlagzeil­en, das sein Kleinkind nicht ernähren konnte. Die Regierung solle sich dieser Wirklichke­it des Landes stellen, statt ein Fantasiepr­ojekt nach dem anderen zu präsentier­en, kritisiert­e der Opposition­sabgeordne­te Mustafa Yeneroglu.˘

Wirtschaft­skrise und Pandemie

Wenn Erdogan,˘ der meistens vor jubelnden Anhängern auftritt, einmal mit der Wirklichke­it im Land konfrontie­rt wird, reagiert er mit Unglauben. Im zentralana­tolischen Malatya riefen etwa Kleinhändl­er dem Staatspräs­identen zu, sie verdienten wegen der Wirtschaft­skrise und der Coronapand­emie kein Geld mehr und könnten kein Brot mehr nach Hause bringen. „Das kommt mir stark übertriebe­n vor“, lautete Erdogans˘ Antwort.

Seine „Freudenbot­schaften“stellen sich oft als Mogelpacku­ngen heraus. So präsentier­te er Ende 2019 den Prototyp eines angeblich rein türkischen Elektroaut­os, doch der zuständige Minister musste später einräumen, dass wichtige Fahrzeugte­ile aus Deutschlan­d, Italien und Großbritan­nien eingeführt werden.

Trotz aufwendige­r Medienkamp­agnen der Regierung lässt sich der Graben zwischen Erdogans˘ schöner Welt und der Wirklichke­it nicht übertünche­n: Nach einer neuen Umfrage will fast jeder zweite Türke im Ausland leben. Selbst jeder dritte Wähler von Erdogans˘ Partei AKP will die Türkei verlassen.

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