Die schöne „Parallelwelt“des Recep Tayyip Erdo˘gan
Türkei. Der Staatschef verspricht ein Raumfahrtprogramm und mehr Wohlstand – aber die Realität sieht anders aus. Die Opposition übt Kritik.
Istanbul. Wenn Recep Tayyip Erdogan˘ über die Türkei redet, erkennen viele Bürger ihr Land nicht wieder. Von einem wirtschaftlich starken, angesehenen und hoch technisierten Staat mit Ambitionen bis in das Weltall spricht der Staatspräsident. „Wir werden den Platz einer mächtigen und unabhängigen Türkei nicht nur auf der Erde, sondern auch im All sichern“, sagte Erdogan˘ zuletzt bei der Vorstellung eines türkischen Raumfahrtprogramms. In zwei Jahren will seine Regierung die erste türkische Rakete zum Mond schicken, später soll ein türkischer Astronaut das All erkunden.
Das „Weltraum-Märchen“habe allerdings nichts mit der Lebenswirklichkeit von Millionen Türken zu tun, die unter hoher Inflation und steigender Arbeitslosigkeit leiden, sagt Oppositionspolitiker Özgür Karabat. Die türkische Führung ziehe sich immer mehr in eine „Parallelwelt“zurück.
Kurz nach der Präsentation des Raumfahrtprogramms verkündete Erdogan,˘ die Türkei werde bald zu den zehn mächtigsten Ländern der Welt gehören. Fast gleichzeitig hat der 66-Jährige eine Diskussion über eine neue Verfassung vom Zaun gebrochen, mit der er seine eigene Macht weiter festigen will.
Problem Arbeitslosigkeit
Die Regierungspresse überschlägt sich mit Lob für die vielen „Freudenbotschaften“des Präsidenten, die er stets mit der Warnung vor feindseligen Mächten im Ausland versieht. Widerstand gegen seine Politik, wie bei den jüngsten Studentenprotesten in Istanbul, betrachtet er als staatsfeindliche Provokation. Erdogan˘ spricht viel von den „tollkühnen Türken“, die es der Welt zeigen würden. In der Realität sieht es anders aus. Offiziell liegt die Arbeitslosigkeit bei knapp 13 Prozent, doch bemängeln Opposition und Gewerkschaften, dass die Statistikbehörde die vielen Unterbeschäftigten und all die nicht mitzählt, die es aufgegeben haben, nach einem Job zu suchen: In Wirklichkeit seien nicht vier Millionen Türken ohne Arbeit, wie die Regierung sage, sondern zehn Millionen.
Nur indirekt räumen Regierung und Erdogan-˘treue Medien die Probleme ein. So ordnete Erdogan˘ im Jänner an, die Preise für Grundnahrungsmittel zu senken. Die regierungstreue Internetzeitung „Takvim“gab ihren Lesern Tipps für das billige Einkaufen: Sie sollten nur mit vollem Bauch zum Supermarkt gehen und sich dort mit einem Korb begnügen, statt einen großen Einkaufswagen zu benutzen.
Einkaufstipps lösen die Probleme aber nicht. Normalverdiener, die mit dem Mindestlohn von umgerechnet 330 Euro netto im Monat auskommen müssen, beschweren sich über ständig steigende Preise. In Istanbul machte jetzt der gemeinsame Suizid eines jungen Ehepaars Schlagzeilen, das sein Kleinkind nicht ernähren konnte. Die Regierung solle sich dieser Wirklichkeit des Landes stellen, statt ein Fantasieprojekt nach dem anderen zu präsentieren, kritisierte der Oppositionsabgeordnete Mustafa Yeneroglu.˘
Wirtschaftskrise und Pandemie
Wenn Erdogan,˘ der meistens vor jubelnden Anhängern auftritt, einmal mit der Wirklichkeit im Land konfrontiert wird, reagiert er mit Unglauben. Im zentralanatolischen Malatya riefen etwa Kleinhändler dem Staatspräsidenten zu, sie verdienten wegen der Wirtschaftskrise und der Coronapandemie kein Geld mehr und könnten kein Brot mehr nach Hause bringen. „Das kommt mir stark übertrieben vor“, lautete Erdogans˘ Antwort.
Seine „Freudenbotschaften“stellen sich oft als Mogelpackungen heraus. So präsentierte er Ende 2019 den Prototyp eines angeblich rein türkischen Elektroautos, doch der zuständige Minister musste später einräumen, dass wichtige Fahrzeugteile aus Deutschland, Italien und Großbritannien eingeführt werden.
Trotz aufwendiger Medienkampagnen der Regierung lässt sich der Graben zwischen Erdogans˘ schöner Welt und der Wirklichkeit nicht übertünchen: Nach einer neuen Umfrage will fast jeder zweite Türke im Ausland leben. Selbst jeder dritte Wähler von Erdogans˘ Partei AKP will die Türkei verlassen.