Ein Abend mit den Dämonen
Analyse. Nick Kyrgios und das australische Publikum holten Dominic Thiem aus der Komfortzone. Dass es der Österreicher dennoch ins Australian-Open-Achtelfinale geschafft hat, zeugt von Reife.
Melbourne/Wien. Dominic Thiem hat seinen ersten echten Härtetest bei den diesjährigen Australian Open bestanden. Der Niederösterreicher rang den Australier Nick Kyrgios nach 3:21 Stunden mit 4:6, 4:6, 6:3, 6:4, 6:4 nieder und steht damit wie 2017, 2018 und 2020 im Achtelfinale von Melbourne. Zum bereits vierten Mal in seiner Karriere gelang Thiem dabei das Kunststück, ein Spiel trotz 0:2-Satzrückstand noch zu gewinnen. Zuvor war ihm dies gegen Ernests Gulbis (ATP 12, US Open 2014), Denis Kudla (ATP 190, Australian Open 2018) und Alexander Zverev (US Open 2020) geglückt.
Matches gegen Nick Kyrgios lassen sich nicht schubladisieren. Steht man dem 25-Jährigen gegenüber, weiß man nie so recht, was man bekommt. Auch gegen Thiem nutzte Kyrgios die Bühne der John Cain Arena, um sich als Showman zu inszenieren. Er schlug Aufschläge von unten, vollierte durch die Beine, fragte Fans, wohin er als
Nächstes servieren solle. Und natürlich ließ er sich auf Diskussionen mit dem Stuhlschiedsrichter ein, bekam sogar Punktabzüge. Kyrgios hat seine Landsleute perfekt in dieses Spiel eingebunden, sie vom ersten Game weg animiert, ihn lautstark zu unterstützen. Das Enfant terrible aber bloß auf all diese Nebengeräusche zu reduzieren würde dem großartigen Tennisspieler Kyrgios nicht gerecht werden. Der Mann aus Canberra machte ein starkes Spiel. Und es ist ihm gelungen, den Favoriten aus seiner Komfortzone zu holen.
Thiem fühlte sich nicht wohl. In den ersten beiden Sätzen hatte das Match einen „Maus vor der Schlange“-Charakter. Später erklärte der 27-Jährige: „Kyrgios ist ein Unikat. Gegen ihn zu sielen ist anders, es war Neuland für mich.“Das Spiel lief lange Zeit an dem Österreicher vorbei, er wirkte etwas lethargisch, zu oft war der Kopf gesenkt und die Körpersprache negativ. Speziell in dieser Phase bemerkte man das Fehlen von Coach Nicola´s Massu´, dem Antreiber. Der
Chilene hat es nach einem positiven Coronatest im Vorfeld nicht mehr zeitgerecht nach Australien geschafft, wo er von Vater Wolfgang Thiem ersetzt wird.
Ein Break als Game-Changer
Es war ein Kampf mit den Dämonen, den Dominic Thiem in dieser Night Session auszutragen hatte. Der Weltranglistendritte sprach von einem „Negativstrudel“, in den er geraten war. Erst ein Break Anfang des dritten Satzes zum 2:0 – zuvor hatte Thiem zwei Breakchancen von Kyrgios zunichtegemacht – änderte das Momentum.
Es war ein ganz entscheidendes Erfolgserlebnis. Thiem begann an sich selbst und den Turnaround zu glauben, fand langsam zu seinem eigentlichen Spiel, dem offensiven Grundlinientennis. Und er bewegte sich und Kyrgios besser. „Je länger das Match gedauert hat, desto wohler habe ich mich gefühlt“, erklärte der Vorjahresfinalist, der meist vier bis fünf Meter hinter der Grundlinie die zweiten Aufschläge von Kyrgios returnierte. Was zunächst (zu) defensiv wirkte, zeigte doch einen positiven statistischen Effekt: Thiem gewann 59 Prozent aller Ballwechsel, wenn der Australier den zweiten Aufschlag benötigte.
Und was kann der Niederösterreicher mitnehmen aus diesem Spiel? Siege in Fünfsatzmatches sind immer ein Segen für das Selbstvertrauen, zudem hat Thiem die Gewissheit erlangt, dass er sich körperlich in einem sehr guten Zustand befindet. Nächster Gegner ist am Sonntag der Bulgare Grigor Dimitrow, Nummer 21 der Weltrangliste.