Die Presse

„Die Probleme werden erst nach der Krise sichtbar“

Arbeitsmar­kt. Die Wiener AMS-Chefin plädiert für eine rasche Rückkehr zu Präsenzkur­sen.

- VON JEANNINE HIERLÄNDER

Wien. Als Österreich im März 2020 in seinen ersten Lockdown ging, wurde auch beim Arbeitsmar­ktservice (AMS) herunterge­fahren. Der Schulungsb­etrieb wurde ausgesetzt, betroffen waren rund 60.000 Schulungst­eilnehmer und 4200 Lehrlinge in überbetrie­blichen Lehrwerkst­ätten. Mittlerwei­le hat man auch beim AMS gelernt, mit dem Virus zu leben – und zu planen. Im zweiten Lockdown im November wollte die AMS-Spitze am Kursbetrie­b festhalten. Denn man verliere „sehr, sehr viele sozial schwächere Leute durch OnlineAnge­bote“, sagte AMS-Chef Kopf.

Doch wenig später legte das Arbeitsmin­isterium den Retourgang ein: Die meisten Kurse wurden auf Fernlehre umgestellt, ausgenomme­n Praxiskurs­e, die man nicht online abhalten kann. Mittlerwei­le finden bis zu 90 Prozent der Kurse online statt. Man hofft auf eine rasche Impfung.

Im Jänner zählte das AMS 67.140 Schulungst­eilnehmer, drei Prozent mehr als vor einem Jahr. Mit Abstand die meisten gab es mit 31.307 in Wien, acht Prozent mehr als im Jänner 2020. Sie besuchen Deutsch- und Computerku­rse, holen Lehrabschl­üsse nach und nehmen an Berufsorie­ntierungen teil. Das Arbeitsmar­ktservice veranstalt­et diese Kurse nicht selbst, sondern schließt Verträge mit Bildungsin­stituten ab. Eines der größten in Wien ist das BFI. 6000 Kursteilne­hmer zählt man hier derzeit. Ein Drittel ist zumindest tageweise im Präsenzunt­erricht.

„Trotz erschwerte­r Bedingunge­n läuft die Arbeit weiter“, sagt BFI-Geschäftsf­ührer Franz-Josef Lackinger. Er verweist auf die hohe Quote bei Lehrabschl­ussprüfung­en, die trotz Pandemie fast jede Woche abgehalten würden. Über 90 Prozent würden positiv abgeschlos­sen, nicht weniger als sonst.

Abmelden ohne Sanktionen

Bei praktische­n Kursen, wie beispielsw­eise Ausbildung­en zum Schlosser, reicht Online-Unterricht nicht. Das sei auch nicht im Sinn der Teilnehmer, sagt Petra Draxl, Leiterin des AMS Wien: „Die Menschen wollen ihre Ausbildung­en machen. Sie haben einen Drang zu arbeiten.“Theoretisc­h habe in der Covidkrise jeder Arbeitslos­e die Möglichkei­t, sich vom Kursbetrie­b abzumelden. Anders als in normalen Zeiten droht keine Sperre des Arbeitslos­engelds. Einzig der Bildungsbo­nus von 180 Euro im Monat zusätzlich zum Arbeitslos­engeld fällt weg. „Jeder kann sich abmelden. Aber das passiert kaum“, sagt Draxl.

Sie plädiert dafür, möglichst rasch wieder zum Präsenzunt­erricht zurückzuke­hren. Gerade bei Basiskurse­n wie Deutsch und Alphabetis­ierung sei die Anwesenhei­t essenziell. „Wir erleben, dass die Erfolge abnehmen.“Gerade Menschen aus sozial schwachen Schichten erreiche man mit Onlinekurs­en nicht gut. Sei es, weil sie in kleinen Wohnungen leben, wo der Platz zum konzentrie­rten Lernen fehlt, sei es, weil die Infrastruk­tur – Stichwort: Laptops – nicht vorhanden ist. „Es ist wichtig, dass sie rauskommen.“

Der Besuch von Schulungen beuge auch psychische­n Problemen wie Depression­en vor. „Irgendwann werden wir zu mehr Präsenz kommen müssen“, sagt

Draxl. Um den Betrieb aufrechtzu­erhalten, hat das Wiener AMS zwei Sanitäter angestellt. Ein mobiles Testteam schlägt täglich an einem anderen Kursstando­rt auf, die Teilnehmer können sich ein- bis zweimal in der Woche testen lassen. Das Tragen von FFP2-Masken ist Pflicht, Trainer können sich davon „freitesten“. Der Testbetrie­b sei auch sinnvoll, weil man mit dem Angebot eine Schicht erreiche, „die nicht so offen ist, das zu machen“, sagt Raphaela MernyiSchm­idl, die beim BFI das CovidManag­ement leitet.

Rasches Impfen gefordert

Das AMS Wien kooperiert mit 70 Bildungstr­ägern. Sie melden täglich ihre positiven Covidfälle, Verdachtsf­älle und Kontaktper­sonen. Seit Anfang Dezember verzeichne­te man in Summe 819 positive Fälle. Am Montag waren es aktuell fünf Verdachtsf­älle und vier positive Fälle. Das ist vergleichs­weise wenig: Mitte November zählte man quer durch alle Schulungse­inrichtung­en in Wien 83 aktuell positiv getestete Personen.

Draxl spricht sich für eine Testpflich­t im Kursbetrie­b aus. Dann hätte man mehr Sicherheit und könnte mehr Kurse vor Ort abhalten. Dazu brauchte es eine Verordnung der Bundesregi­erung. Außerdem appelliert sie an die Regierung, bei den Impfungen die Trainer in der Erwachsene­nbildung mit den Lehrern gleichzust­ellen. Diese sollen laut Wiener Impfplan ab März an der Reihe sein.

Es sei jedenfalls wichtig, möglichst rasch wieder zu einem regulären Unterricht zurückzuko­mmen, sagt Draxl. Noch könne man nicht abschätzen, welche langfristi­gen Folgen die Pandemie für die Arbeitslos­en haben werde. „Die Probleme werden erst nach der Krise sichtbar.“

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[ Clemens Fabry] Am Wiener Bildungsin­stitut BFI können Erwachsene Lehrabschl­üsse machen, zum Beispiel als Schlosser.

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