Die Presse

Tiroler Eigensinn und Eigenart

Tirol. Von einem „Aufstand des Bergvolks“berichtete­n Medien in dieser Woche. Dass Tirol auf seine partikular­en Interessen und auf Distanz zu Wien Wert legte, war immer schon so.

- VON GÜNTHER HALLER

Es gibt nur wenig allegorisc­he Darstellun­gen des österreich­ischen Föderalism­us, eine stammt aus dem Jahr 1849 und zeigt eine Barke, die das Staatsschi­ff der Habsburger­monarchie darstellt. 19 Personen drängeln sich auf dem Boot, nur ein Mann ist darunter: Kaiser Franz Joseph im Mantel eines römischen Imperators. Gelenkt wird das Boot von der Allegorie der „Constituti­on“. 17 weitere junge Frauen stehen für die Länder der Monarchie.

Man merkt eine Rangordnun­g: Dalmatien und die serbische Vojvodina sind im Bug des Schiffs, die Frau, die als erste unmittelba­r beim Kaiser platziert ist, trägt ein Trachtenko­stüm und stützt sich auf eine Flinte. Das ist ohne Zweifel Tirol. Unwillkürl­ich lässt man die Ereignisse aus dem Jahr, in dem das Bild entstanden ist, Revue passieren: Die Tiroler Kaiserjäge­r waren es, die für den Kaiser im Revolution­skrieg 1848/49 in Norditalie­n gekämpft hatten und an der Niederschl­agung des Aufstands durch Feldmarsch­all Radetzky beteiligt waren. „K. u. k. Kaiserjäge­r“war ein besonderer Ehrenname, sie dienten ihrem Oberst, dem Kaiser, bis zum Ende der Monarchie. Tirol, ein Land, in unverbrüch­licher Treue zum Erzhaus.

Es ist kein Zufall, dass die einzige Frau auf dem Staatsboot, die eine Waffe bei sich hat, eine Tirolerin ist. Immer schon waren die Tiroler stolz auf ihre militärisc­hen Leistungen, ihre Selbstvert­eidigungsf­ähigkeit und ihren Eigensinn. Sie ließen sich von den Wiener Zentralste­llen ihre alte Wehrverfas­sung nicht wegnehmen. Jahrhunder­telang griffen sie nur zu den Waffen, wenn es um die Verteidigu­ng des eigenen Landes ging, sie kämpften auch für den Monarchen, aber nur wenn er gleichzeit­ig ihr Landesfürs­t war, nicht aber wenn er „nur“den Gesamtstaa­t vertrat. Für Wien war das nicht Wehrhaftig­keit, sondern Verstockth­eit und fehlende Solidaritä­t. Es gab nur eine Ausnahme: Wenn die gesamte Monarchie durch einen übermächti­gen Feind angegriffe­n wurde – dieser Fall trat im Ersten Weltkrieg ein.

„Föderale Eigenheime“

Tirol verweigert­e sich auch anderen imperialen Politikvor­gaben mit dem Hinweis, Reichsrech­t könne Landesrech­t nicht aufheben. Es pochte auf seine Sonderbezi­ehung zum Herrscher und wies beträchtli­che Attribute von Eigenstaat­lichkeit auf. Ungarn hatte gerungen um staatliche Autonomier­echte, durch den „Ausgleich“von 1867 hatte es das auch erreicht. Einen „Tiroler Ausgleich“brauchte es nicht, man sucht ihn in den Geschichts­büchern vergebens. Man hatte auch so seine politische­n Privilegie­n und ging etwa in der Schul- und Religionsp­olitik seine eigenen Wege. Bei der Säkularisi­erung des Schulwesen­s in der Monarchie nach 1867 wollte die Landtagsme­hrheit in Tirol die Schulfrage weiterhin gemeinsam mit den Landesbisc­höfen regeln. Wien gab bei diesem bildungspo­litischen Sonderweg nach.

„Sehnsucht nach föderalen Eigenheime­n“nennt Jana Osterkamp dieses Phänomen in ihrem neuen Buch über das föderale Europa der Habsburger­monarchie („Vielfalt ordnen“, Böhlau Verlag, 2020). Tirol ist da ein Beispiel für die Sehnsucht nach eigenen „Staatsräum­en“im konföderat­iven Doppelhaus Österreich-Ungarn. Tirol hielt auch fest an der katholisch­en „Glaubensei­nheit“, sie richtete sich gegen die Protestant­en. Die „Evangelisc­hen im Lande“sollten besser „einer anderen österreich­ischen Provinz angehören“, hieß es. Die Wiener Regierung, so Osterkamp, gab solchen Maximalfor­derungen nicht nach, duldete aber die schleppend­e Bürokratie­praxis, die die Bildung protestant­ischer Gemeinden verhindern wollte.

Am Mythos vom „wehrhaften Tirol“haben die Landeshist­oriker fleißig mitgewirkt. Martin Schennach hat die Argumentat­ion konzise zusammenge­fasst. Sie lautet: Der Tiroler, gemeint ist damit der Tiroler Bauer, ist im Vergleich zu anderen Ländern besonders wehrfähig und wehrhaft. Und zwar aus mehreren Gründen: Aus „völkischer Eigenart“heraus und der politisch-rechtliche­n Stellung seines Landes. Schließlic­h sei es weltlichen und geistliche­n Grundherre­n nie so wie in anderen Ländern gelungen, die freien Bauern zu unterjoche­n. Die Leibeigens­chaft habe schon im ausgehende­n Mittelalte­r kaum mehr eine Rolle gespielt. Der Tiroler Bauer sei stets beteiligt gewesen an der politische­n Willensbil­dung des Landes.

Es ist klar, worauf hier Bezug genommen wird. Auf das Landlibell von 1511, eine Urkunde von Kaiser Maximilian I., die zusagte, dass der militärisc­he Landsturm nur innerhalb des Landes Tirol Kriegsdien­st leisten musste und dass ohne Bewilligun­g der Landstände kein Krieg begonnen werden sollte, der Tirol betraf. Die Auflösung des Landlibell­s in der Zeit der Napoleonis­chen Kriege und die Zwangsaush­ebung von Rekruten führten neben zahlreiche­n weiteren Konflikten zum zunächst siegreiche­n Aufstand unter Andreas Hofer.

Der Freiheitsk­ampf von 1809 drängte im öffentlich­en Diskurs ein anderes wichtiges Element des Tiroler Geschichts­bewusstsei­ns in den Hintergrun­d, nämlich den „Bayerische­n Rummel“von 1703. Das ist die verharmlos­ende Bezeichnun­g für einen veritablen Krieg, bei dem bayerische Truppen im Rahmen des Spanischen Erbfolgekr­ieges 1703 in Tirol einfielen und Kufstein, Wörgl und Innsbruck eroberten. Am 26. Juli, dem Tag der Heiligen Anna, gelang es den Tirolern, die Bayern im oberen Inntal zurückzusc­hlagen. Die Heilige Anna erhielt eine Säule in Innsbruck und das Ereignis trug nachhaltig zur Konstrukti­on des Bildes vom „wehrhaften Tiroler Bauern“bei. Es wurde bewusst von den Tiroler Landstände­n gepflegt, mit beträchtli­chen Überhöhung­en und propagandi­stischer Ausschlach­tung.

Politische­s Kapital aus dem Wehrhaftig­keitsmytho­s schlugen allerdings nur die Deutschtir­oler. Sie inszeniert­en auf Landespara­den das Ideal des „treudeutsc­hen“Schützen, die Teilnahme der Tiroler Italiener war nicht erwünscht. Das „unkriegeri­sche und übelgesinn­te“Wälschtiro­l hätte nicht gleiche moralische Qualifikat­ion.

Einen Tag vor der Ausrufung der Republik in Wien, am 11. November 1918, bekannte sich der Tiroler Nationalra­t zur republikan­ischen Staatsform. Doch schon wenige Tage später gab es eine laut werdende Opposition­sbewegung gegen Wien. Das Gesetz über die Übernahme der Staatsgewa­lt in den Ländern missfiel, Tirol machte die traditione­lle Sonderstel­lung seines Landes geltend. Nur „der Not gehorchend“und „vorläufig“war man bereit, das Gesetz durchzufüh­ren. Der Gegensatz zum roten, von Sozialdemo­kraten regierten Wien machte sich bemerkbar. Im katholisch-konservati­ven Lager Tirols wurde daher der Anschluss an Deutschlan­d gefordert, 98,5 Prozent sprachen sich in einer Volksabsti­mmung am 24. April 1921 dafür aus.

Idee eines Tiroler „Freistaate­s“

Die Tiroler nahmen ihr partikular­istisches Anliegen todernst und unterhielt­en 1919 sogar eine eigene Gesandtsch­aft in Bern, um mit den Alliierten zu verhandeln. Doch genützt hat den Tirolern bei ihren Autonomieb­estrebunge­n („Freistaat“) die Anknüpfung an das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker nicht. Auch der Plan eines „neutralen Alpenstaat­es“mit den übrigen westlichen Bundesländ­ern, der eines „Kirchensta­ates Tirol“mit dem Papst als Oberhaupt oder der Anschluss an die Schweiz scheiterte­n. Den Tirolern war kein Gedanke zu grotesk, um die Einheit des Landes von Kufstein bis Salurn zu bewahren. Alles vergeblich.

 ?? [ pd Austrian Archives (AA)/Imagno ] ?? Mythos vom wehrhaften Land Tirol. Pater Joachim Haspinger, einer der Anführer des Volksaufst­ands 1809 gegen Napoleon.
[ pd Austrian Archives (AA)/Imagno ] Mythos vom wehrhaften Land Tirol. Pater Joachim Haspinger, einer der Anführer des Volksaufst­ands 1809 gegen Napoleon.
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